Heimat-Jahrbuch 2005

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Französische Besatzung in Wittlaer und Bockum
Während der Rheinlandbesetzung waren französische Soldaten 4½ Jahre hier einquartiert
Von Bruno Bauer

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg hatte der Versailler Vertrag dem Deut­schen Reich Wiedergutmachungszahlun­gen (Reparationen) in Höhe von 226 Milliarden Goldmark auferlegt. Mehrfach kam es dazu, dass die Sachlieferungen (Kohle, Holz usw.) nicht rechtzeitig ausgeliefert wurden. Daraufhin besetzten französische Truppen als Zwangsmaßnahme (Sanktion) am 7. März 1921 das Gebiet um Düsseldorf, Duisburg und Hamborn. Auch Wittlaer und Bockum waren betroffen. Im Januar 1923 führte dann ein gering­fügiger Rückstand bei den deutschen Lie­ferungen - es fehlten 100 000 Telefon­stangen - zum Einmarsch französischer und belgischer Truppen in das Ruhrgebiet zwischen Wuppertal, Dortmund und Lippe.

Die Reichsregierung verkündete den „passiven Widerstand“, der für die Beamten verpflichtend wurde, dem sich aber auch Arbeiter und Ange­stellte anschlossen. Viele Menschen verloren daraufhin ihre Arbeit, weil sie den Anordnungen der Besatzer nicht Folge leisten wollten. Gewalt gegen Personen und Sachen war an der Tagesordnung. Die französische Militärverwaltung griff hart durch. Am 15. März 1923 sprengte Albert Leo Schlageter die Eisenbrücke über den Haarbach auf der Strecke Düsseldorf-Duisburg in die Luft, um Kohletransporte nach Frankreich zu verhindern. Das französische Militärgericht verhängte am 8. Mai gegen Schlageter die Todesstrafe. Die Reichsregierung unterstützte den passiven Widerstand durch Geld­überweisungen, um Lohnausfälle und Produktionsminderungen auszugleichen. Diese Zahlungen in Höhe von 40 Millionen Goldmark täglich überstiegen aber schnell die finanziellen Möglichkei­ten des Reiches. Es kam zur „galoppierenden Inflation“, die vor allem den Mittel­stand, die Lohn- und Gehaltsempfänger und die Rentner ruinierte.

Frau Margarete Hundgeburt, Jahrgang 1917, hat die Zeit der französischen Besatzung als Kind erlebt: „Ich habe neben der Wirtschaft „Zur Linde“ gewohnt. In unserem Haus hatten wir einen Tante-Emma­-Laden. Die Franzosen haben auf dem Saal von der Gastwirtschaft „Zur Linde“ gelegen. Der Saal war über dem Kuhstall auf der 1. Etage, die vier Fenster lagen zu unserer Seite. Abends oder tagsüber, je nach dem, wann die Franzosen gearbeitet hatten, wann sie im Ruhrgebiet die Maschinen und Fabriken abgebaut hatten, kamen sie dann zu uns zum Einkaufen. Zu der Zeit war mein Kinderzimmer für ein Ehepaar Arends aus Luxemburg beschlagnahmt worden. Der Mann war hier als Brunnenbauer für die Wasserwerke Duisburg tätig, die neue Brunnengalerien an der Wittgatt und am Froschenteich anlegten. Die Arends konnten gut französisch, und Frau Arends, die immer zu Hause war, musste dann bei uns im Laden dolmetschen.

Einmal hatten wir Besuch. Mein Bett wurde daraufhin aus dem Wohnzimmer ins Schlafzimmer geschoben. Im Bett habe ich dann was aufgeschnappt, was mein Vater und seine Freunde in unserem Wohnzimmer gesungen hatten. Mein Vater war im Ersten Weltkrieg Soldat in Verdun gewesen und verehrte Kaiser Wilhelm I. sehr, und daher kannte er das Lied, das auf die Melodie von „Strömt herbei ihr Völker Scharen“ gesungen wurde:

„Lot dä Franzmann mer enns komme
an dä frie dütsche Rhing
mit Kanone, Piffe, Tromme
oh, dann sollt ehr enns jet senn,
sure Wing mer ehne jewe,
dat se all kapott dran jonn,
un die dann noch öwerlewe
inzel för de Schnüss mo schlonn.

Das Lied durfte ich als Kind zu Hause nicht singen. Dann hätten meine Eltern sofort gemerkt, dass ich statt zu schlafen gelauscht hatte. Aber ich habe es draußen auf dem „Herzgesklo“ gesungen. Wir hatten damals noch keine Wasserspülung, sondern drei Herzgesklos, richtige Plumpsklosetts mit einem Herzchen drin. Als ich oben durch das Herzgen geguckt habe, sah ich die Franzosen im Fenster liegen. Da hab ich die Tür aufgestoßen, kräftig gesungen und dazu noch dirigiert. Abends kamen drei Franzosen bei uns einkaufen und fragten meine Mutter, ob sie eine kleine Tochter hätte und ob sie mal kommen könnte. Ich saß nebenan in unserer Küche und machte Schularbeiten. Oh, dachte ich, das sind die Franzosen, die haben mich singen gehört. Sie baten mich, ich sollte das Lied von heute Morgen noch mal singen. Ich bin stolz in den Laden gegangen, Hände an der Hosennaht und habe kräftig gesungen. Frau Arends musste übersetzen. Meine Mutter bekam einen roten Kopf vor Angst. „Wo hast du das Lied denn her?“, fragten sie mich. „Vom Papa“. Auch das noch! Meine Mutter hatte große Angst und mir immer gewunken, ich sollte gehen, ich sollte endlich aufhören. Dann passierte etwas Unerwartetes: Einer der Franzosen zog das Portmonee heraus und schenkte mir ein großes Goldstück mit einem Loch drin. Oh, ich war stolz wie Oskar. Später erfuhr ich dann, dass es wahrscheinlich Wallonen waren, die die richtigen Pariser Franzosen nicht leiden konnten. Sie hatten wohl ‚Franzmann‘, ‚kapott‘ und ‚schlonn‘ (schlagen) verstanden. Das Lied ist mir aber nie übel genommen worden.“

Ruhrepidemie
Als die Franzosen einige Monate in Wittlaer und Bockum gelegen hatten, brach eine Ruhrepidemie aus: „Meine Mutter sah plötzlich, dass an den Latrinen überall Blut lief. Mein Vater musste sofort Branntkalk besorgen und überall ausstreuen, auch vor der Ladentür und auf der Straße, wo die Pferde liefen. Es gab ja früher nur Pferdewagen. Eine einziger Mann im Dorf hatte ein Auto: Kommerzienrat Dahlmann in der großen Villa gegenüber. Das Auto hatte noch Karbidlampen. Man kann sich vorstellen, wie unser Laden aussah: überall Branntkalkspuren. Die Klinke der Ladentür hatte meine Mutter mit Lysollappen umwickelt und sich eine durchgeschnittene Zwiebel zum Desinfizieren der Hände in die Schürzentasche gesteckt. In der Schürzentasche Genau bis zu uns grassierte die Ruhr. Und ab uns das Dorf abwärts war keine Ruhr mehr.“

Die Franzosen hatten Wittlaer und Bockum Anfang März 1921 besetzt. Sie waren hauptsächlich in Scheunen bei den Bauern und in den Sälen der Gastwirtschaften untergebracht. Am 13. Januar 1923, zu Beginn der Ruhrbesetzung, wurden für ein paar Tage beide Klassenräume der Wittlaerer Volksschule besetzt. Bis zum 17. Januar musste der Unterricht ausfallen. Das jahrelange Zusammenleben von Einheimischen und Besatzungssoldaten verlief in Wittlaer und Bockum allgemein ohne Probleme.

Margarete Hundgeburt: „Schräg gegenüber unserem Haus wohnte die befreundete Familie Kau auf dem Wimmersgut. Sohn Jakob war etwas älter als ich. In der Scheune waren Franzosen einquartiert. Die Familie Kau hatte mit den Franzosen ein solch gutes Verhältnis, dass sie sogar ein gemeinsames Foto gemacht haben. Die Franzosen haben sich uns gegenüber ganz anständig benommen. Wir konnten uns nicht beklagen. Angst hatten wir irgendwie schon. Aber wir waren ja auch vorsichtig. Wir sind ja lustige und meistens freundliche Rheinländer. Wir sind möglichen Konflikten aus dem Weg gegangen. Verhaftungen und Ausweisungen gab es bei uns nicht. Nach dem Schlageter-Sabotageakt wurde die Lage allerdings kritischer. Man durfte nicht dokumentieren, dass man kaisertreu war. Da musste man schon aufpassen.“

Während der französischen Besatzung verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation zunehmend. Margarete Hundgeburt: „Oben bei uns im Haus wohnte als sogenannter Kostgänger bei Familie Brachter der Holländer Jan Lindeboom, der früher bei Berzelius, einer Metallfabrik, beschäftigt war und nun mit den Franzosen seine eigene Arbeitsstelle abmontieren musste, weil er sich mit den Maschinen auskannte. Dadurch ist ja das Ruhrgebiet ausgeräumt worden. Millionen Menschen wurden arbeitslos, darunter viele Familienväter. Die Frauen waren hauptsächlich als Dienstmädchen oder als Schneiderin beschäftigt. Die Arbeitslosen mussten zu Fuß nach Ratingen zum Stempeln gehen. Als Stempelgeld gab es ganze 7,60 M in der Woche für die ganze Familie. Wenn einer in der Familie Arbeit hatte, bekamen die übrigen arbeitslosen Familienmitglieder kein Stempelgeld mehr. In Bockum waren viele Familien von Arbeitslosigkeit betroffen.

Es lebten auch einige Witwen mit Kindern im Dorf, die ein 6-Pfund-Brot, das sogenannte Armenbrot, pro Woche bekamen. In unserem Laden wurde das Brot ausgegeben, ohne einen Pfennig Verdienst für uns. Wir kriegten soundsoviel große Brote mit einer Liste geliefert. Die Witwen mussten bei den Bauern als Dienstmädchen Geld verdienen. Sie haben auf dem Brett für die Bauern gewaschen und bekamen dann zum Mittagessen einen halben Hering oder ein halbes Ei. Mehr gab es nicht. Dann mussten sie Kartoffeln auflesen. Die kleinen Kinder wurden in große 100-Pfund-Körbe („Karemange“) gesteckt und saßen oder standen dann in den Körben, während die Mütter Kartoffeln aufgelesen haben. Die Kleinen hatten meistens kein Höschen an, und Pampers gab es ja zu der Zeit noch nicht. Für den Tag gab es 50 Pfund Kartoffeln, damit die Familie für den Winter etwas zu essen hatte. Die Leute hatten hier meistens eine Ziege, die „Kuh des kleinen Mannes“, und Hühner. Das Futter mussten sie sich verdienen: auf den Knie liegend Rüben ziehen, junge Pflänzchen vereinzeln. Das war ein hartes Leben. Das kann sich die Jungend heute gar nicht mehr vorstellen.“

Inflationszeit
1923 erreichte die Wirtschaftskrise ihren Höhepunkt, die deutsche Währung sank ins Bodenlose. Die Folge war ein drastisch sinkender Lebensstandard und steigende Arbeitslosenzahlen. Margarete Hundgeburt: „Mein Vater hatte schon seit 1898 ein Milchgeschäft in Düsseldorf angefangen. Meine Mutter führte das Lebensmittelgeschäft an der Bockumer Straße, früher Kolonialwarengeschäft, heute würde man Tante-Emma-Laden sagen. In der Inflationszeit haben meine Eltern alles verloren, was sie bis dahin verdient hatten. Die Leute, die nun die Hoffnung hatten, die Regierung hätte auch die Hypotheken abgewertet, wurden enttäuscht. Die Hypotheken blieben stehen. So ist manches Eigentum an die Banken verloren gegangen.

Banken gab es ja früher nicht viele. In Bockum war 1896 die Raiffeisenkasse gegründet worden, die früher in einem einfachen Wohnzimmer beim Ortsvorsteher Klingen untergebracht war. Dort hing auch das erste Telefon im Dorf. Einmal zahlte eine Frau beim Klingen Geld ein und kam anschließend aufgeregt zu meinem Großvater: ‚Weißt du Christian, dem Klingen können wir unser Geld nicht mehr anvertrauen.‘ ‚Warum dat denn nicht?‘, hat der Großvater gefragt. ‚Stell dir vor, der hat ein Brett an der Wand und da war so ein Hörnchen dran und da hat der davor gestanden und gesagt: Tach, Herr Bürgermeister Rissdorf. Hat der doch verdammt getan, als ob der mit dem Bürgermeister von Kaiserswerth gesprochen hätte. Der ist verrückt, der spinnt, der ist nicht mehr normal.“

Nach 4½-jähriger Besatzungszeit räumten die Franzosen im August 1925 schließlich die Sanktionsstädte Düsseldorf und Duisburg, nachdem das Ruhrgebiet bereits einige Wochen zuvor frei geworden war. In den geräumten Orten wurden Befreiungsfeiern abgehalten. Der durch die Besatzungsbehörden verbotene Rundfunkempfang wurde nun eilig in vielen Häusern installiert.

Bruno Bauer