Heimat-Jahrbuch 2005

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Auf den Spuren der Kalkstraße
Noch heute lässt sich der historische Weg gut verfolgen
Von Hannes Esser

Als ich vor kurzem meine Lebensgefährtin Sascha mit meinem Krankenmobil in der Lintorfer Klinik besuchte, traf ich bei meiner Fahrt unversehens auf die „Kalkstraße“, die hinter Angermund abzweigt und in Richtung Lintorf verläuft. Dieser Straßenname weckte meine Neugier, haben wir doch in Wittlaer ebenfalls eine „Kalkstraße“. Ich las daraufhin den Artikel „Der Kalkhafen Wittlaer“ von Bruno Bauer im Heimat-Jahrbuch 1981 und begeisterte mich für die Idee, diese Straße einmal von Wittlaer aus bis Ratingen zu fahren.

Also machte ich mich auf den Weg. Es war ein schöner Sommertag, die Luft war warm, und der Himmel strahlte in einem Himmelblau. Ich fuhr also nach Wittlaer zu Brand's Jupp, wo im 17./18. Jahrhundert das sogenannte Kalkblech lag, direkt am Schwarzbach, auf dem Gelände des heutigen Biergartens. Hier endete die vom Bergischen kommende Kalkstraße, hier wurde der Kalk, den man mit Pferdefuhrwerken aus den Kalkgruben bei Ratingen geholt hatte, auf die alten Transport-Segler verladen. Das war zu einer Zeit, als das Werth noch eine Insel und von einem schiffbaren Rheinarm umflossen war.

Ich versuchte, mich in die alte Zeit zurück zu versetzen, als hier die alten Frachtsegler vor Anker gingen und die Fuhrleute und Arbeiter die Kalkfracht verluden. Die Pferde bekamen Futter, und die Knechte tranken sicher in der Kneipe ihr Bier. Von hier ging meine Fahrt los, um die Kirche herum auf der „Kalkstraße“ durch das Dorf in Richtung Krauser Baum, vorbei am Heiligenhäuschen über die Duisburger Landstraße, einem uralten Handelsweg, durch Felder in Richtung Heltorfer Schlossallee. Bis zur Straßenbahnüberquerung war der Weg gut befahrbar. Dann aber war er durch den Regen so aufgeweicht und durch die landwirtschaftlichen Fahrzeuge so zerfurcht, dass ich nur mit großer Mühe und viel Geschick voran kam. Der Himmel war madonnenblau, kein Wölkchen weit und breit, ein richtiger Sommertag mit dem frischen Geruch des reifen Korns und der Kamille, Lerchengesang und dem Flug der Kornweihe. Das Getreide war fast reif, die Gerste teilweise gemäht.

Der Weg wurde immer verwachsener, die Radspuren kaum zu erkennen. Große Wasserpfützen standen noch vom letzten Regen, für mein Krankenmobil nicht der beste Weg. Aber nun war ich einmal hier, und nun wollte ich auch noch weiter. Die sommerliche Stimmung, die vielen Kräuter und Feldblumen, das hohe Gras am Wegesrand, die Stille und Einsamkeit ließen meinem Abenteuerdrang keine Ruhe. Ein paar Krähen saßen auf den abgeernteten Feldern, ein großer Schwarm Möwen gesellte sich zu ihnen, ein Bussardpärchen drehte am Himmel seine Kreise. Das also war der historische Kalkweg! In meiner Fantasie versetzte ich mich in die alten Zeiten und erlebte die harte Arbeitswelt der Kalkfuhrleute, die mit ihren Pferdefuhrwerken bei Wind und Wetter, bei Regen und im Sommer bei unbarmherziger Hitze unterwegs waren. Mücken, Fliegen und Bremsen ärgerten Pferde und Fuhrknechte, ich höre den Peitschenschlag, das Anfeuern, vielleicht summte der Mann auf dem Bock ein Lied, vielleicht schlief er ein, die Pferde schnaubten, und der Schweiß lief ihnen am ganzen Körper herunter. Keine Schenke weit und breit, und oft war der Weg nur Morast.

Endlich erreichte ich die Schlossallee, die ich schon lange vor mir sah, die zum Heltorfer Schloss führt, eine breite Allee mit großen, weitausragenden Lindenbäumen. Ich überquerte die Anger, die verträumt unter einem Blätterdach dahinfloss. Die Lindenallee spendete kühlen Schatten und ich war froh, für eine Weile der glühenden Julisonne entflohen zu sein. Dann zweigte der Weg ab und führte als „Kalkweg“ zur Agneskapelle, die hell im Sonnenlicht sich von dem Grün der schattenspendenden Bäume abhob. Weiter ging es durch rosen- und Erdbeerfelder auf Angermund zu. Der Weg führt vorbei am Angermunder Krausen Baum, einer 200jährigen Flatterulme, die versteckt am Bahndamm liegt, zwar völlig hohl und doch noch voll Leben ist. Langsam ansteigend ging es über die Eisenbahnbrücke. Den ganzen weg entlang standen an den Rändern hohes Gras, Schafsgarbe, das gelbblühende Eisenkraut und immer wieder in großen Pulks die weißblühende Kamille.

Der „Kalkweg“ führt weiter am Ortsrand von Angermund vorbei und mündet in die Straße nach Rahm. Gegenüber liegt das kleine schneeweiße Rochus-Kapellchen. Nun geht es durch die Heltorfer Mark, durch einen lichten Laubwald mit hochwachsendem Königsfarn. Der Weg ist morastig und mit meinem Gefährt kaum zu befahren. Die letzten Regengüsse haben den Waldboden aufgeweicht. Nur an den Rändern finde ich einen schmalen befahrbaren Streifen. Die Sonne scheint durch die Baumwipfel und lässt große Kringel auf die Pfützen scheinen. Hier hatten früher die Fuhrleute mit ihren Pferden und Karren große Schwierigkeiten, auf den unbefestigten Straßen voran zu kommen. Ich erreiche die Lintorfer Waldstraße und fahre in die beschilderte „Kalkstraße“ ein. Eine große Lichtung tut sich rechter Hand auf, der Hinkesforst mit Pappeln und Buchen, links tauchen die ersten Häuser von Lintorf auf.

Der von hohen Gräsern und allerlei Pflanzen bewachsene Weg verläuft teilweise an dem romantisch von Bäumen und Sträuchern umsäumten Dickelsbach vorbei. Gelbe Kornfelder und Rübenäcker vor der Silhouette des Hinkesforstes, hin und wieder einzelne Bäume mit schirmartiger Krone, hier und da eine Bank zum Verweilen. Eine lebhafte Landschaft. Nun führt die Kalkstraße durch den nördlichen Teil des Ortes Lintorf und endet vorerst nach einem kurzen morastigen Waldstück vor der Autobahn Düsseldorf-Essen. Hier komme ich nicht weiter und fahre über Lichtenbroich nach Hause. Ein schöner, erlebnisreicher Tag geht zu Ende. Müde falle ich am Abend ins Bett.

Am nächsten Tag versuche ich den letzten Abschnitt zu fahren. Es geht zunächst über Kalkum nach Ratingen und dort zum „Blauen See“, dem Ausgangspunkt der Kalkstraße. Zum „Blauen Loch“, wie wir die Naturbühne auch nannten, fuhren wir in meiner Jugend oft mit den Eltern zum sonntäglichen Spaziergang. Hier also wurde der Kalkstein abgetragen und in Kalköfen gebrannt, auf die Fuhrwerke verladen und zum Kalkblech nach Wittlaer gefahren. Nun machte ich mich auf den Weg zum Endpunkt der gestrigen Fahrt. Es ging durch das große Waldstück zwischen Lintorf und Hösel, vorbei am Stinkesberg, durch Mischwald teils mit Tannen teils mit Buchen bewachsen. Der meist sandige Weg bietet malerische Winkel, begleitet von der in vielen Windungen der Mündung entgegenfließenden Anger. Es ist das größte Waldstück, das ich durchfahren muss, mit sonnigen und schattigen Abschnitten - eine erholsame Fahrt. Ich genieße die Waldeinsamkeit, die Stille und den Gesang der Waldvögel fernab vom Lärm der Stadt. Ich erreiche die Anschlussstelle der Autobahn und finde auf die Kalkstraße in Lintorf zurück. Es war eine gute Idee, diesen Weg einmal zu befahren. Ich machte viele Fotos, nach denen meine Zeichnungen entstanden sind.

Hannes Esser