Heimat-Jahrbuch 2006

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„Wenig Wind, viel Bauch!“
Hermann-Josef Zensen und seine Crew segeln seit 13 Jahren auf Nord- und Ostsee
Von Till Matthias Zimmermann

„Das schlimmste ist der erste Platz. Am besten, man wird zweiter!“ Verschmitztes Lächeln. Der Gast staunt. „Für den zweiten Platz gibt es nämlich eine Dreiliterflasche Rum, für den ersten nur einen alten, vergammelten Teewagen.“ Seit 1992 segelt Hermann-Josef Zensen mit einer Gruppe von Wittlaerer Hobbyseglern, der nach ihm benannten HJZ-Crew, auf einem gecharterten Schiff über die Nord- und Ostsee. Skipper und Maat werden als Fachleute für die einwöchigen Fahrten verpflichtet, der Rest der sechzehnköpfigen Truppe besteht aus guten Freunden.

Hermann-Josef Zensen sieht nicht aus wie ein Seebär. Kein eisgrauer Bart schmückt Kinn und Wangen, in seinem Mund steckt kein Kautabak. Doch unter den rheinischen Singsang hat sich im Laufe der Jahre das norddeutsche Idiom gemischt und wenn Zensen von dem Leben auf Schiffsbrettern und in Häfen erzählt, dann könnte man meinen, man stehe in einer kleinen Spelunke am Kai und höre einem alten Steuermann zu, der von seinen Abenteuern erzählt. In Wirklichkeit sitzen wir immer noch im Wittlaerer Garten der Familie Zensen. Es kommt keine frische Brise von der See. Die Luft hängt schwül und stickig über dem Dorf, kein Windhauch bewegt sie.

Die erste Fahrt war furchtbar Hermann-Josef Zensen kam über einen Freund zum Segeln. In den 70ern war er als Surfer in Angermund unterwegs. Als ihn ein Arbeitskollege fragte, ob er nicht einmal bei einer Bootsfahrt auf dem Ijsselmeer mitmachen wolle, sagte Zensen zu und erinnert sich mit Schrecken an seinen ersten Törn: „Die Fahrt hatte mein Freund ,Marine-Horst’ organisiert. Der hatte privat ein Schiff gechartert. Als wir ankamen, arbeitete er in einer halben Stunde seine Checkliste durch. Von wegen Sicherheit. Und als er fertig war, ging’s los. Es war furchtbar! Dauernd wurde mir schlecht und wenn die Übelkeit mal nachließ, hab ich immer nur gedacht: Das machst du nie wieder!“ Doch als sich die Wogen wieder gelegt hatten, erinnerte er sich an die vielen schönen Augenblicke an Bord. Und ein paar Wochen später war er sich sicher, dass dies nicht seine letzte Fahrt auf See gewesen sein sollte.

Nach weiteren Fahrten auf dem Ijsselmeer machte Zensen mit seinem Freund auch die Ostsee unsicher, büffelte die Theorie und bestand die Prüfungen für die Segelschiff-Führerscheine. Das Segelfieber hatte ihn jetzt endgültig gepackt. Mit seiner Begeisterung steckte er auch seinen Bekanntenkreis an. Freunde, Nachbarn und Arbeitskollegen fragten sich, was denn ihren Hermann so fesselte und ließen sich davon überzeugen, dass eine Bootsfahrt sehr lustig sein kann.

Im Jahre 1992 war es dann soweit: „Da haben wir mit acht Leuten unsere erste Fahrt gemacht. Das Gründungsjahr ist es trotzdem nicht so richtig, wir sind ja kein Verein.“ Seit dieser ersten Fahrt auf dem Ijsselmeer trifft man sich jedes Jahr zwei- bis dreimal, davon einmal zum Segeln. War die Gruppe im ersten Jahr noch klein und übersichtlich, fanden die 23 Segler im folgenden Jahr auf einem Boot schon keinen Platz mehr. Also hieß es auf zwei Booten „Leinen los“. Ein einmaliger Versuch, der seitdem nicht mehr wiederholt wurde: „Wenn man mit zwei Booten losfährt, hat man gleich zwei Gruppen und da ist immer ein bisschen Rivalität. Man ist nicht mehr in einer großen Gemeinschaft unterwegs, sondern in zwei kleinen. Es ist auch schwer sich auszutauschen. Man sieht sich ja nur abends im Hafen.“

Endlich auf dem „Weißen Schwan“ Zensen und seine Mitsegler nahmen sich vor, für die nächsten Jahre ein großes Boot zu finden, auf dem sie mit einer Stammtruppe von 14 Personen segeln könnten. 1995 überführten sie den Segelschoner „Meander“ in die Nordsee. „Das war der Durchbruch. Seitdem wir auf diesem Boot die Nordsee erlebt hatten, waren wir uns sicher, dass wir nicht mehr auf dem Ijsselmeer fahren wollen.“ Und dann kam die „Bisschop“. Die „Bisschop van Arkel“, die wegen ihres schwungvollen Profils auch „Weißer Schwan“ genannt wird, fuhr von 1900 bis 1983 unter deutscher Flagge in der Ostsee. Danach wurde sie restauriert und mit kompletter Takelage ausgestattet. Die „Bisschop“ ist ein Zweimast-Toppsegelschoner, knapp dreißig Meter lang und sechs Meter breit. Sie fährt bei gutem Wind unter elf Segeln und bietet bis zu sechzehn Personen und 5000 Litern Trinkwasser Platz. 1996 segelte die Wittlaerer Crew das erste Mal auf der „Bisschop“. Im nächsten Jahr lernten sie das Boot bei einer Überführungsfahrt von Makkum, dem Heimathafen der „Bisschop“, nach Flensburg besser kennen. Nach dem Törn über Kopenhagen und durch die dänische Südsee gab es kein Zurück mehr. Es war Liebe auf den ersten Blick, wenn man Hermann-Josef Zensens Augen glauben kann. Die glänzen vor Freude, wenn er vom „Weißen Schwan“ erzählt. Die Wittlaerer sind dem Schiff treu geblieben. Die HJZ-Crew hat bis heute kein anderes Boot mehr bestiegen.

Plötzlich zieht ein Sturm auf Die Planung einer Tour übernimmt Hermann-Josef Zensen. Im Frühjahr holt er die Seekarten raus und legt eine grobe Route fest, die in einer Woche zu bewältigen ist. „Wir fahren zwar jedes Jahr auf der Nord- und Ostsee, aber langweilig wird das nie. Auch wenn wir Routen segeln, die wir so oder ähnlich schon mal gemacht haben: Jede Tour bringt etwas Neues.“ An eine festgelegte Route muss die Crew sich allerdings nicht halten. „Wir müssen uns natürlich dem Wind und Wetter anpassen. Wenn das Wetter umschlägt und plötzlich ein Sturm aufzieht, ändern wir unsere Route. Genauso, wenn wir das Gefühl haben, wir würden hier gerne noch ein wenig länger rumschippern. Dann machen wir das eben! Außer dem Abgabetermin für das Boot haben wir keinerlei Verpflichtungen.“ Und das Wetter wechselt manchmal beängstigend schnell. Binnen weniger Stunden kann aus einem sonnigen, ruhigen Morgen stürmische, unruhige See werden. „Morgens sind wir noch in kurzer Hose auf Deck und zwei Stunden später steckt man im Ölzeug und sieht die Brecher auf sich zukommen.“

Bei den Touren dürfen auch die Sehenswürdigkeiten der jeweiligen Hafenstädte nicht zu kurz kommen. Der Königspalast in Kopenhagen zum Beispiel liegt direkt am Kai. „Da stolperte man, kaum war man von Deck runter, direkt auf die Palastwachen vorm großen Eingangsportal zu“, lacht Zensen. Nach den ersten Fahrten merkten die Crewmitglieder beim alljährlichen Treffen, dass die Erinnerung an die einzelnen Etappen, an die Schiffsrouten und an die Sehenswürdigkeiten langsam verblasste. „Da verschwimmt so manches. Wir haben uns dann überlegt, dass es schön wäre, sich an die Fahrten zu erinnern. So entstand die Idee eines Schiffstagebuchs.“ Anhand des Logbuches wird nun jedes Jahr eine Chronik der Ereignisse geschrieben. Diese wird mit Farbfotos bebildert und schön gebunden. „So kann jeder zu Hause die einzelnen Fahrten noch einmal nachlesen.“

Erinnerungswürdig sind auch die Großereignisse der Fahrten: Die Rum-Regatta in der Flensburger Förde. „Als das Mitte der neunziger Jahre anfing, lagen 30 Boote im Hafen zum Start bereit. Inzwischen sind es 120“, erzählt Zensen über den großen Zulauf der Regatta. „Allerdings geht’s da nicht so verbissen wie bei den Profis zu. Das muss man sich vorstellen wie Kirmes und Karneval auf dem Wasser. Eine unglaublich friedliche, kameradschaftliche Atmosphäre herrscht da jedes Jahr.“ Und weil die Rum-Regatta gerade nicht so ist wie eine normale Regatta, gibt es zum Abschluss auch keine Preisverleihung, sondern eine „Preisverschleuderung“, bei der dem Sieger dann der verbeulte Teewagen übergeben wird, der die nächsten Tage am Mastbaum hängen muss. Als gut sichtbares Zeichen für den Sieg. Die Rumflasche für den Zweitplatzierten muss nirgendwo hochgezogen werden. Höchstens wenn sie leer ist.

Herings-Regatta und Kostümfest Eine andere Kirmes auf dem Wasser ist die Herings-Regatta von Kappeln nach Sønderburg. „Man muss sich vorstellen, wir schippern von einer Fete zur anderen.“ Das heißt aber nicht, dass die HJZ-Crew nur von einer Regatta zur nächsten dümpelt und auf der Fahrt den gewonnenen Rum konsumiert. „Wir sind zwar eine verstrahlte Truppe, aber jedenfalls keine Kaffeefahrt“, stellt Zensen fest. Allerdings geht es bei solchen Wettfahrten weniger um Erfolge oder um sportlichen Ehrgeiz. „Das ist wie eine große Familie. Ein Treffen unter Freunden. Man sieht sich einmal im Jahr, freut sich über das gute Wetter, quatscht ein bisschen und macht Unsinn. Irgendwann fühlt es sich so an, als wär man wieder dreizehn!“ Das bekam während eines Kostümfests unter dem Motto „Karibische Nächte“ im Hafen von Flensburg eine Abi-Klasse zu spüren, die eine Ladung Wasserbomben auf die Besatzung der „Bisschop“ gefeuert hatte. Zuerst hatten die Wittlaerer sich ergeben, um im richtigen Augenblick die Schüler mit Wasserschläuchen mächtig nass zu machen. „Ist zwar kindisch, macht aber einen riesigen Spaß!“

Bei den Regatten ist ein Startgeld zu entrichten und morgens gibt es ein gemeinsames Frühstück im Festzelt. „Da kann es dann sein, dass zu wenig Tische und Stühle aufgestellt wurden. Anderswo würde jetzt vielleicht lamentiert werden, aber hier wird einfach gehandelt. Da werden die fehlenden Tische gemeinsam aufgestellt. Die Leute helfen sich gegenseitig. Schnell und unkompliziert.“ Klar, dass die Crew auch an Bord solche Eigenschaften schätzt. Bei starkem Wellengang muss angepackt werden und nicht erst langatmig erörtert werden, wer zuständig ist. „Jeder hat an Bord seinen Platz. Die Mannschaft wird in kleine Gruppen aufgeteilt, die jeweils einen Tag lang für eine bestimmte Aufgabe zuständig sind. Da gibt es alles: Von der Kombüsengruppe bis zur Klüverbande.“ Da die Arbeit täglich wechselt, ist jeder auf dem ganzen Schiff einsetzbar. „Wir könnten das Schiff heute eigentlich ohne professionelle Hilfe segeln. Die Mannschaft ist aufeinander abgestimmt.“ Das war allerdings nicht immer so. Im Laufe der Jahre ist auch so mancher nach einer Fahrt wieder ,über Bord gegangen’. „So etwas bleibt natürlich nicht aus. Wenn wir merken, dass es mit jemandem nicht reibungslos klappt, wird der im nächsten Jahr nicht mehr mitgenommen. Der Teamgedanke ist sehr wichtig. Und manche Leute passen einfach nicht zur Gruppe.“

Jenseits der 1000-Meilen-Grenze Wie wichtig Zensen die Hilfsbereitschaft nicht nur innerhalb der Mannschaft ist, wird deutlich, wenn er seinem Unmut gegenüber den so genannten „Stegseglern“ Luft macht. „Wenn ein Schiff irgendwo in den Hafen kommt und Schwierigkeiten beim Anlegen hat, dann gibt es solche, die helfen und gute Tipps geben oder andere, die in ihrer sauberen Uniform mit der blitzenden Knopfreihe an der Reling stehen und einfach nur lachen. Damit ist niemandem geholfen, das sind keine richtigen Segler.“

Den langen Weg von Düsseldorf zum Hafen legt die Crew mit der Bahn zurück. „Am schönsten ist es dann natürlich, wenn wir in der Nähe des Bord-Bistros untergebracht sind. Dann kann man bei einem kleinen Imbiss und einem Bier sich ein bisschen austauschen.“ Es sind zwar viele Wittlaerer in der Truppe, doch auch Freunde aus Hessen oder Bayern, die man sonst nur selten sieht. Nach größeren Wechseln in den ersten Jahren ist die Zusammensetzung der Mannschaft nun weitgehend stabil. „Die meisten haben die 1000-Meilen-Grenze weit überschritten. Wenn man pro Fahrt mit ungefähr 250 Meilen rechnet, dann sind die also viermal und öfter dabei gewesen.“

Das erste Abendessen an Bord wird von zu Hause in Kühltaschen mitgebracht, der größte Teil des Proviants und die Getränke werden vorher bei einem Bootsausstatter in Kiel oder Rostock bestellt. „Letztes Jahr hatte meine Frau einen Schweinebraten vorbereitet, den mussten wir nur noch aufwärmen. Dazu gab es Kartoffeln und Möhren.“ Auch sonst wird meist deftige Hausmannskost zubereitet. Zum Nachtisch gibt es Fossilien-Creme oder Elch-Mimosen-Creme. „Das sind einfach nur Schokopudding und eine Quarkspeise mit Eierlikör und Kirschen. Das Mitglied der Crew, das den Nachtisch zubereitet, gibt neben den Zutaten auch seinen Spitznamen.“ Die Spitznamen sind eigentlich Taufnamen, die den „Neuen“ auf der „Bisschop“ bei ihrer ersten Fahrt gegeben werden. In einem genau festgelegten Ritual werden äußere und innere Reinigung sowie die ,Seekrankheitsprophylaxe’ vollzogen. Dabei werden die Täuflinge im Gesicht und unter den Armen kräftig eingeseift, müssen ein Mix-Getränk auf der Basis lauwarmen Bieres trinken, und nach ihrem Verhalten an Bord und während der Zeremonie wird der Taufname ausgewählt.

Als Wappentiere Elch und Papagei Die Taufnamen der Crew haben auch ihren Weg in das Wappen der HJZ-Crew gefunden. Nachdem Hermann-Josef Zensen nach dem Besuch in einem Kieler Brauhaus Zuflucht in einem Gebüsch suchen musste, verfing er sich in den Ästen und beim Blick auf den wackelnden und vibrierenden Busch dachten seine Freunde spontan an einen Elch, der sich dort versteckt hatte. Martin Hilger hat an Bord die Angewohnheit, alle Befehle, die ihm zugerufen werden, für den nächsten zu wiederholen, was ihm den Taufnamen „Papagei“ einbrachte. Die Freude war groß, als ein überlebensgroßes Exemplar aus Styropor während der Rum-Regatta in Flensburg gefunden wurde. So schmücken Elch und Papagei die Fahne der HJZ-Crew, die sonst das Wittlaer-Wappen als Vorbild hat.

Die HJZ-Crew hat in dreizehn Jahren immer Glück gehabt. „Uns ist nie etwas passiert. Manchmal haben wir zwar ganz schön einen vor den Hintern gekriegt, doch wie brenzlig es ist, wenn einem die Welle auf Schulterhöhe entgegenkommt, das überlegt man sich erst, wenn sich das Wasser wieder beruhigt hat.“ Und wenn es dann stiller auf See geworden ist und Skipper Erik ruft: „Wenig Wind, viel Bauch!“ heißt das nicht etwa, dass die „Bisschop“ ein Schiff der Übergewichtigen ist. Wenn der Wind schwächer weht, müssen die Segel locker gehalten werden, um in ihrer bauchigen Form den Wind besser zu fangen. Nach all den Jahren auf hoher See hat Hermann-Josef Zensen die Lust am Wenden und Halsen noch nicht verloren. „Ich freue mich jedes Jahr, wenn es wieder losgeht.“ Und wenn er dann nach dem Törn in Wittlaer im Garten sitzt und sich die Fotos ansieht, auf denen die Sonne orange-rot im Meer versinkt, während die „Bisschop“ im Hafen liegt, dann ist er froh, dass es Berichte und Erinnerungen gibt. „Denn das ist ein toller Anblick, oder? Einfach nur schön.“