Heimat-Jahrbuch 2007

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Fast eine Insel im Meer der Verwüstung
Der Dreißigjährige Krieg am Niederrhein – Die Bauern in den Herzogtümern Jülich und Berg profitierten von der Neutralität
Von Till Matthias Zimmermann

Die Soldaten hätten das Dorf vielleicht nie gefunden. Sie waren vom Pfad, der durch den Wald führte, abgekommen und irrten schon seit einiger Zeit durch das Gehölz. Plötzlich hörten sie Flötentöne. Sie folgten den Geräuschen und kamen auf eine Lichtung, auf die ein Schäfer seine Herde geführt hatte. Das Dutzend Soldaten wartete in den Büschen, bis der Schäfer den Heimweg antrat und folgte ihm. So fanden sie den Weg in das kleine Dorf, das nur aus wenigen Höfen bestand. Die Landsknechte sprangen brüllend von ihren Pferden, zückten die Degen und stürmten in die Häuser und Stallungen. Während die einen alle Nahrung aus den Vorratskammern schleppten, trieben andere das Vieh auf den großen Platz in der Mitte des Dorfes. Mit Schlägen und Tritten wurden die Dorfbewohner ins Freie gejagt und mussten dort mit ansehen, wie ein großer Teil ihrer Schweine abgestochen wurde. Das Feuer, das in der Zwischenzeit entfacht worden war, hatte schon die ersten Häuser ergriffen. Die Bauern, die sich gegen die Eindringlinge wehrten, wurden gleich erschlagen. Die Fremden achteten nur darauf, dass die Familienväter noch am Leben waren. Ihre Fußsohlen wurden mit feuchtem Salz eingerieben, an dem eine Ziege solange leckte, bis die Männer unter Lachen, Schreien, Krämpfen und Tränen verrieten, wo sie ihre Ersparnisse versteckt hatten. Aus den Scheunen und hinter den Häusern gellten die Schreie der Mütter, Töchter und Mägde, die von den Landsknechten vergewaltigt wurden. Als die Soldaten das hatten, was sie wollten, ihre Mägen voll und die Provianttaschen mit dem Hab und Gut der Bauersleute gefüllt waren, stiegen sie auf ihre Pferde und ritten davon – keiner im Dorf hatte ihren grausamen Besuch überlebt.

Diese Begebenheit, wie sie Grimmelshausen in seinem 1668 erschienenen Roman Simplicissimus ähnlich erzählt, hat sich während des Dreißigjährigen Kriegs unzählige Male abgespielt. Die Zeitgenossen hatten sich zwar an Kriege schon gewöhnt. Zwischen 1500 und 1700 fanden in Europa fast 200 statt, nur in fünf Prozent der Zeit wurde nicht gekämpft. Doch so schrecklich wie dieser war keiner gewesen. Den Wirren im Hause Habsburg und dem Prager Fenstersturz, bei dem zwei kaiserliche Räte in einem Misthaufen landeten, war ein Religionskrieg gefolgt: der Kampf der katholischen Liga gegen die protestantische Union. Und war dann zu einer Völkerschlacht von europäischem Ausmaß geworden, bei der außer den deutschen Fürsten auch Schweden, Franzosen, Spanier, Engländer, Iren, Ungarn, Kroaten, Polen und viele andere kämpften. Man schätzt, dass diesem Krieg zwischen 1618 und 1648 etwa sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen, ein Drittel der gesamten deutschen Bevölkerung. Besonders die Bauern hatten zu leiden. Sie hatten kaum eine Chance, sich zu verteidigen und so waren sie leichte Beute durchziehender Soldaten, die sich bei ihnen nicht nur mit Nahrung eindeckten.

Die „Schadensliste zum Hessenkrieg am Niederrhein“, die der Historiker Günther Engelbert erstellt hat, gibt einen Überblick über die Vorkommnisse in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts, der „grausamen Hessenzeit“, deren dürre Worte das Entsetzen nur ahnen lassen: Angermund: 1642 im Mai Überfall, im Juni Bedrohung, im Oktober Exekution. 1645 Kontribution. 1646 Exekution. 1648 Exekution. 1649 März hessischer Einfall, Oktober Exekution, November Abgaben - und das mehr als ein Jahr nach dem Westfälischen Frieden. Bockum: 1635 Drangsalierung durch holländische Besatzung. 1642 Plünderung. Kaiserswerth: 1642 im Mai kaiserliche Besatzung, im Juli Überfälle, im August hessische Übergriffe, 1643 im Juni Angriff auf hessische Truppen, im August erst Kontribution, dann Meuterei. Lintorf 1645: im Januar Errichtung eines Lagers, im Juni Plünderung. Wittlaer scheint ziemlich unbeschadet davon gekommen zu sein, es ist in den Akten für Juni 1645 ein Kalktransport vermerkt. Zehn Jahre zuvor ist eine Schlägerei und ein Aufruhr zwischen kaiserlichen Soldaten und Wittlaerer Bewohnern aktenkundig geworden.

Besatzung trotz Neutralität Die Geschichten und Schicksale der großen Feldherren, Könige und Kaiser sind schon oft erzählt worden. Doch über den Alltag der Bauern am Niederrhein, über Gefahren und Strapazen während eines Krieges, der nicht enden zu wollen schien, erfährt man aus den Schulbüchern nur wenig. Anders als in der heutigen Zeit waren im 17. Jahrhundert die meisten Menschen Bauern, fast 90 Prozent der Gesamtbevölkerung. Großstädte gab es in Deutschland nur vier: Augsburg, Nürnberg, Köln und Hamburg. Sie hatten zwischen 20.000 und 40.000 Einwohnern, gemessen an heutigen Verhältnissen kaum der Rede wert. Die überwiegende Mehrheit lebte auf kleinen Gehöften oder in etwas größeren Ackerbürgerstädten, über die man wohl sagen kann, dass die Einwohnerzahl etwa so groß war wie die Anzahl der Schweine.

In den ersten Jahren des Krieges blieben die Herzogtümer Jülich und Berg noch recht unbehelligt. Die während des Streits um die Jülich-Klevische Erbfolge durch einen zermürbenden Kleinkrieg stark in Mitleidenschaft gezogenen Lande waren erst 1614 durch die Übernahme der Herrschaft durch Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm zur Ruhe gekommen. Die Gebiete des aus dem Hause Pfalz-Neuburg stammenden Herzogs lagen fernab der Heeresrouten und Schlachtplätze und der Katholik Wolfgang Wilhelm wahrte während der gesamten Kriegszeit Neutralität. Als jedoch Gustav Adolf II. von Schweden für die Protestanten in den Krieg eintrat und 1631 in der Schlacht bei Breitenfeld, nordwestlich von Dresden, das kaiserliche Heer unter dem legendären Feldherrn Graf von Tilly vernichtend schlug, begann für den Niederrhein eine harte Zeit. Es kam zwar nicht zu kriegerischen Auseinandersetzungen, doch der „Schwedensturm“ brachte ab 1632 kaiserliche und protestantische Truppen ins Bergische Land. Franzosen und Hessen zogen ebenso durch das Gebiet wie Spanier und Lothringer. Diese nicht abreißende Kette von Besatzungen, Durchmärschen und Winterquartieren war eine enorme Belastung für die größtenteils bäuerliche Bevölkerung. Um ihre Familien und ihr Hab und Gut vor den marodierenden Landsknechten zu schützen, griffen die bergischen Bauern zu den Waffen.

Beim Läuten der Glocken zu den Waffen Das Land wurde bei Angriffen entweder von dem seit dem Mittelalter eingerichteten Lehnsaufgebot der Ritterschaft oder der landesherrlichen Söldnertruppe verteidigt. Zudem verfügten Jülich und Berg über eine Landmiliz. Diese bestand aus allen Bürgern, Einwohnern und Untertanen, die fähig waren, eine Waffe zu tragen. Männer, die älter als sechzig oder jünger als achtzehn Jahre waren, wurden nicht zum Dienst herangezogen, auch Geistliche, Wagner, Seiler oder Schmiede nicht. Mit Glockengeläut wurden die Milizionäre zu den Waffen gerufen.

Zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges waren es meist die Obdachlosen, Nichtsesshaften und Erwerbslosen gewesen, die sich vor den Mustertischen der Soldatenwerber anstellten, um endlich Lohn und Brot zu bekommen. Im Laufe der nicht enden wollenden Kämpfe hörten auch Bauern, die durch den Krieg Haus und Hof verloren hatten, auf die Werbetrommel der Heeresunternehmer. Nicht selten zogen auch die Familien mit ins Feldlager, denn Frau und Kinder waren auf ihren Ernährer angewiesen und ohne sie hätten die Heere nicht funktioniert: die Frauen flickten den Soldaten die Kleidung, transportierten ihr Gepäck und hielten die Waffen instand. Sie beschafften das Essen, bereiteten es zu und pflegten die Verwundeten, denn nur ein gesunder Söldner brachte Geld und Essen - nicht zuletzt von den Raubzügen zu den Bauern. Als der kaiserliche Generalfeldzeugmeister Lamboy im Januar 1642 bei Hüls vernichtend geschlagen und mit 1000 Offizieren und 4000 Soldaten gefangen wurde (auf dem Schlachtfeld bei Uerdingen lagen fast ebenso viele Tote), gehörten zu den Fliehenden „1400 Mann zu Pferd, 600 Reiter und 2500 Frauen“.

Die Begleiter des Krieges - Hunger und Pest Die Lebensbedingungen in den Heereslagern waren erbärmlich. Oft half nur der Alkohol über den Hunger hinweg. Die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln führte zu Mangelkrankheiten und Epidemien. Die Soldaten legten im Jahr hunderte von Kilometern zurück und besaßen oft weder solide Schuhe noch ausreichende Kleidung. Die Halbnackten versorgten sich am Wegesrand, stahlen die auf der Bleiche ausgelegten Tücher und Wäschestücke. Der Historiker Johannes Burckhardt bezeichnet den Landsknecht als armen Teufel, der bei Misshandlungen leicht jedes Maß verlor. Diese umherziehenden Teufel und der Krieg, den sie führten, waren für die Zeitgenossen das „Theater des Schreckens“. Der konfessionelle Hintergrund der Kämpfe und das spätere Ringen der europäischen Großmächte um die Vormachtstellung waren den einfachen Leuten wahrscheinlich zunehmend gleichgültig. Für sie waren der „Schwarze Tod“ und der Krieg das „Strafgericht Gottes“. Zwischen 1612 und 1649 gab es in Düsseldorf acht Pestepidemien. Allein in den Jahren 1627 bis 29 fielen ihnen fast zweitausend Menschen zum Opfer.

Die Lage für die Herzogtümer Jülich und Berg in diesem Albtraum aus Gewalt und Tod war zunächst nicht ungünstig. Wie schon erwähnt, bemühte sich der Herzog Wolfgang Wilhelm um Neutralität. Auf diese Weise konnte er zwar die Heereszüge durch sein Land ebenso wenig verhindern wie die Einquartierung fremder Truppen, doch Schauplatz kriegsentscheidender Schlachten zwischen katholischer und protestantischer Seite waren Jülich und Berg nicht. So wurden zwar vier Jülicher Kompanien Landesschützen – ein anderen Name für die Miliz – zur Verstärkung des Militärs einberufen, aber nicht eingesetzt. Die Landmiliz wurde zum Grenzschutz genauso gebraucht wie zum Wachdienst für die Hauptstadt Düsseldorf. Ihre Hauptbeschäftigung war allerdings der Schutz des eigenen Besitzes. Wahrscheinlich verfügte man am Niederrhein, wie in anderen ländlichen Gegenden des Reiches, über ein regionales Frühwarnsystem. Das gab den Bauern Zeit, um in die Wälder zu flüchten oder Schutz in den Burgen von Angermund und Kalkum oder hinter den Stadtmauern von Kaiserswerth und Ratingen zu suchen. Dass die Bauern sich zu wehren wussten, berichtete einer der Söldner in seinem Tagebuch mehrmals. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr kämpfte Peter Hagendorf mal für die katholische, mal für die protestantische Seite. Er überlebte und blickte im Alter von fünfzig Jahren auf sein Leben im Krieg zurück. Er sprach in anerkennendem Ton von der Kampfbereitschaft der Bauern und ihrem Nachrichtensystem.

Fast die Hälfte aller Wehrpflichtigen getötet Die Verluste in den Herzogtümern waren trotz der Neutralitätspolitik der Herzogs groß. Nach dem „Schwedensturm“ 1632 eroberten kaiserliche Truppen das rechtsrheinische Gebiet. Ab 1640 besetzten die Hessen das Land nördlich der Wupper, die Kaiserlichen lagen im Siegtal und im Oberbergischen. So wurde das Jülicher Land von beiden Seiten bedrängt. Von Zons kamen kaiserliche, vom Klevischen hessische Truppen, die nach einem Vorstoß ihrer französischen Verbündeten ihre Basis nach Neuss verlegten, um von dort aus ihre Zerstörungszüge zu starten. Diese fielen weit schlimmer aus als jemals zuvor. Während des 16. Jahrhunderts hatte es viele Innovationen auf dem Gebiet der Waffentechnik gegeben. Die sogenannten Luntenschlossmusketen waren leichter zu benutzen als ihre Vorgänger und so konnten auch die Fußsoldaten stärker mit Handfeuerwaffen ausgerüstet werden. Die Artillerie war beweglicher geworden. Sie wurde nicht nur zu Belagerungen eingesetzt, sondern auch unmittelbar auf dem Schlachtfeld. Auch das bergische Land hatte es, trotz seiner abseitigen, waldigen Lage nicht viel besser als Jülich. Die Bergischen verloren mehr als 8.000 Männer ihrer Landmiliz, in Jülich waren es 20.000. In Angermund und Landsberg verringerte sich die Zahl der Milizionäre von 1.220 auf 802 Personen, im Amt Mettmann von 624 auf 337 Personen. Damit war die waffenfähige Bevölkerung fast um die Hälfte reduziert. Trotzdem hatten die Herzogtümer Jülich und Berg insgesamt „nur“ einen Bevölkerungsrückgang von einem Viertel zu beklagen, von ca. 280.000 auf 210.000.

In stark vom Krieg verwüsteten Gegenden waren 80 Prozent der Bevölkerung umgekommen. Das Deutsche Reich war in weiten Teilen entvölkert, leergefegt von unerbittlichen Todesschwadronen, von einer wilden Soldateska malträtiert, die hungrig über die Bewohner der Dörfer herfiel, die brandschatzte und vergewaltigte, folterte und stahl. Bei diesem „Theater des Schreckens“ gab es kaum Zuschauer, nur Beteiligte. Die Einwohner von Jülich und Berg hatte zwar auch viel zu leiden und die „grausame Hessenzeit“ blieb lange in Erinnerung, doch anderen, denen es noch schlimmer ging, kam das Land vor wie eine Insel in einem Meer der Verwüstung.

Literatur:
Bauer, Bruno: Schlägerei in Wittlaer. Eine Episode aus dem Dreißigjährigen Krieg, in: Heimat-Jahrbuch Wittlaer 1990, S. 102f.
Bauer, Bruno: Ein Kriegsschiff vor Bockum. Holländisches Militär griff in religiöse Auseinandersetzungen ein, in: Heimat-Jahrbuch Wittlaer 1992, S. 79
Burckhardt, Johannes: Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a. M. 1992
Dahm, Helmut: Die Verluste der Jülich-Bergischen Landmiliz im Dreißigjährigen Krieg, in: Düsseldorfer Jahrbuch 45 (1951), S. 280-288
Engelbert, Günther: Schadensliste zum „Hessenkrieg am Niederrhein, in Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, Heft 163, S. 134-164, Düsseldorf 1960
Ein Söldnerleben im Dreißigjährigen Krieg. Eine Quelle zur Sozialgeschichte, hrsg. v. Jan Peters (Selbstzeugnisse der Neuzeit 1), Berlin 1993
Kroener, Bernhard R.: Die Familie nährt den Krieg. Die Uniform galt noch als unfein, aber schon um 1600 begann das europäische Wettrüsten, in: F.A.Z. Bilder und Zeiten, 4. September 1999
Pfister, Christian: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie (Enzyklopädie deutscher Geschichte 28), München 1994