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Zu den beliebtesten SpaziergĂ€ngen der vielen Besucher von Kaiserswerth gehört nach wie vor die Promenade, die den Rhein entlang hinauf oder hinunter ins GrĂŒne, in die Natur und in die Stille fĂŒhrt. Es ist der alte Leinpfad, den einst durch Jahrhunderte die Pferde betrampelten, die die Schiffe stromauf zogen. GebĂŒhrend bewundert wird bei der Stadt besonders die Ruine der Kaiserpfalz, jetzt noch ein BauÂkoloss, dessen Wucht und StĂ€rke jeden Betrachter beeindruckt und in Staunen versetzt. Dass neben diesem Bauwerk fest am Rheinufer noch weitreichende MauerÂfundamente zu Tage treten, besagt fĂŒr den SpaziergĂ€nger wenig, höchstenfalls verÂmutet er vielleicht darin das Fundament eines Turmes, der einstmals mit der Burg in Verbindung stand.
Dem ist aber nicht so. Hier stand eheÂmals bis zum Jahre 1836 ein Bauwerk, das fĂŒr die Stadt von weitreichender BeÂdeutung gewesen war. Es war ein MauerÂbollwerk, ein Eisbrecher, errichtet als Wellenbrecher und Zerstörer der anbrauÂsenden Eisschollen. Sie sollten an seiner Wucht zerschellen und von Burg und Stadt abgeleitet werden zum Strom, um sie vor Schaden zu bewahren. Den ungestĂŒmen Naturgewalten ausgesetzt, musste der Bau so fest und stark sein, dass er alÂlen StĂŒrmen Trotz bieten konnte. Die dunklen Tuffsteine waren durch TrassÂmörtel zu einer felsenstarken Einheit verÂgossen. Der Form nach war das Bauwerk dreiseitig, die lĂ€ngste Seite dem Strom zugeneigt. Der alte tiefgraue Tuff, das gleiche Material, worauf im 12. JahrhunÂdert der Dom gebaut wurde, lĂ€sst auf ein hohes Alter schlieĂen. Vielleicht ist diese Schutzeinrichtung gleichzeitig mit der Kaiserburg entstanden.
Die ungetĂŒme Form, die Wucht seiner Masse, seine kloÂbige Gestalt brachten diesem Widerstandsbrecher den Namen âBĂ€râ1 ein. Nicht nur in Kaiserswerth, sondern auch bei anderen RheinstĂ€dten, vor allem bei solchen, die, wie Geologen sagen, in der Aue oder im Schwemmland liegen, also hĂ€ufigen Ăberschwemmungen ausgesetzt sind, gibt es Ă€hnliche Anlagen. Rees z. B. hat ein solÂches Bollwerk sĂŒdlich der Stadt, und hier ist der Ausdruck âBĂ€râ dafĂŒr noch gelĂ€uÂfig2. Diese Bezeichnung ist in Kaiserswerth auch aktenkundig. Als der Geometer HĂŒrxthal das âWardtholzâ, Korb- und Kopfweiden, womit die Rheinufer in der Au bepflanzt waren, die gewerblich geÂnutzt wurden, vermessen wollte, schrieb er in seinem Protokoll, dass er als Ausgangspunkt seiner Vermessung den âBĂ€râ gewĂ€hlt habe, einen unverrĂŒckbaren RichÂtungs- und Kontrollpunkt.
Dass der Eisbrecher dem Schutze von Burg und Stadt dienlich gewesen sein muss und seinen Zweck erfĂŒllt hat, ist dadurch erwiesen, dass er sich bis in die Neuzeit erhalten konnte. Das ist insofern verwunÂderlich, als er andererseits fĂŒr die Rheinschifffahrt das gröĂte Hindernis darstellte. Allen stromaufwĂ€rts fahrenden Schiffen bereitete er einen vorlĂ€ufigen Abschluss der Fahrt. Wie sollten auch die TreidelÂpferde auf dem Leinpfad ein Schiff um den Koloss herumfahren? Hier musste ein Hindernis mĂŒhsam umgangen werden. Jedes Fahrzeug musste anlegen. Die Pferde wurden abgestrĂ€ngt und durch die StadtÂstraĂen wieder zum Leinpfad sĂŒdlich der Burg gefĂŒhrt. Inzwischen waren die Schiffsleinen verlĂ€ngert und um das Hindernis herum zu einem Pfahl mit einer Scheibe oder Rolle, worĂŒber sie gelegt wurden, vorgezogen. Jetzt konnten die Pferde zur Weiterfahrt wieder angespannt werden, und die Rolle gab dem Schiff die Richtung um das Bollwerk herum. Das war ein umÂstĂ€ndliches Verfahren, erforderte viel Zeit und zwang die Schiffer zu einem unfreiwilligen Aufenthalt. So ging der LeinÂpfad hier nicht lĂ€ngst der Stadt, sondern tatsĂ€chlich durch die Stadt. Das Vorziehen der Leinen war Privileg der Familie Monheim, sie besorgte das gegen eine freiwilÂlige Abmachung mit den Schiffsleuten (nachweisbar schon seit dem Jahre 1765). Die ĂŒbliche Tour ging von hier bis zum Golzheimer Hafen, wo ein Umschlagplatz war und der Treidelweg jetzt linksrheiÂnisch seine Fortsetzung hatte.
Die Schiffer benutzten den langen Aufenthalt in der Stadt zur Proviantierung fĂŒr die Weiterreise. Hier war die GeleÂgenheit gĂŒnstig, um WeiĂbrot, SchwarzÂbrot, Rindfleisch, Schweinefleisch, Mehl, Bier, Branntwein und Spezereien einzuÂkaufen. AuĂerdem war noch Zeit zum Haarschneiden und Bartscheren, sogar fĂŒr den Pferdebeschlag. Das war eine vorzĂŒgÂliche Einnahmequelle fĂŒr alle Arten von GeschĂ€ftsleuten in der Stadt. Der BĂŒrgerÂmeister lieĂ 1834 einmal im einzelnen erÂmitteln, wieviel Geld die Schiffer in der Stadt zurĂŒcklieĂen. Es waren 3067 Taler, wozu noch das Pflastergeld fĂŒr die durch die Stadt gefĂŒhrten Pferde mit 84 Talern kam. Da das Einkommen des Monheim fĂŒr das Vorziehen der Schiffsleinen auf 400 Taler zu veranschlagen war, ergab sich insgesamt eine hĂŒbsche runde Summe von 5000 Talern.
Die durch Verlegung des Zuchthauses im Jahre 1796, durch Vereinigung des Stadtgerichts mit Ratingen 1810, durch Aufhebung des Rheinzolls 1803, durch SĂ€Âkularisierung des Kollegiat-Stifts 1803 sehr arm gewordene Stadt bangte um diese jĂ€hrliche Einnahmequelle sehr und vielleicht war gerade das mit ein Grund, weshalb eine so störende Einrichtung so lange bestanden hat.
Es ging alles gut, so lange die PferdeÂtreidelei bestand. Als aber die Dampfschifffahrt um 1830 in Flor kam und von ihr Lasten von bisher unvorstellbaren Mengen und in viel kĂŒrzerer Zeit bewĂ€lÂtigt wurden, war es um den alten EisbreÂcher geschehen. Im Mai 1833 tauchte das GerĂŒcht auf, âwonach unserer armen Stadt auch die letzte Erwerbsquelle durch die Legung des Leinpfades lĂ€ngs der Stadt, entrissen werden sollâ. Dazu musste naÂtĂŒrlich der Eisbrecher entfernt werden. Dann hatte die Schifffahrt freie Fahrt, und kein GefĂ€hrt brauchte mehr anzulegen. Damit entfielen aber auch die reichen Einnahmen. BekĂŒmmert bemerkt dazu der BĂŒrgermeister: âWird dieser letzte ErÂwerbszweig uns nun auch noch genomÂmen, wird unser unglĂŒcklicher Ort nur noch von Bettlern bewohnt seinâ, und der Landrat wird gebeten, bei der Regierung, âdie doch so gerne dazu beitrĂ€gt, den Wohlstand der von ihr verwalteten Orte zu hebenâ, vermitteln zu wollen, âdaĂ die Verlegung des Leinpfades nicht ausgeÂsprochen wird, und wir somit die letzte unserer Nahrungsquellen behalten dĂŒrÂfen.â
Die Antwort der angesprochenen Regierung war negativ: âWir können nur bedauern, daĂ bei Verlegung des Leinpfades auf die Stadt keine RĂŒcksicht genommen werden kann, indem die Schiffahrt auf dem Rheine möglichst erleichtert und geÂsichert werden muĂ, und das schiffahrende Publikum auf Behebung der hin und wieder noch bestehenden bedeutenden GeÂfahr bringenden Hindernisse, worunter auch der Zug des Leinpfades durch die Stadt Kaiserswerth gehört, mit Recht AnÂspruch macht.â Das Urteil war gesprochen, der RegierungsprĂ€sident gibt den trostÂlosen Bescheid: âDie Nachteile, welche nach Ihrer Vorstellung der Stadt KaisersÂwerth aus der Verlegung des Leinpfades erwachsen, bedaure ich mit Ihnen aufrichtig, kann aber an der Sache nichts Ă€ndern, da höhere RĂŒcksichten die VerÂlegung unerlĂ€Ălich machen.â
Trotzdem richteten die BĂŒrger von sich aus einen allerletzten Appell in einer eingehenden Denkschrift an die Regierung, worin es u. a. heiĂt: âMit Schmerz sehen wir unsere unglĂŒcklichen Kinder heranwachsen, denn wir wissen ihnen keine Existenz zu sichern und können unserer Jugend nur den Bettelstab in Aussicht stellen. TĂ€glich sehen wir unsere Lage sich verschlimmern und keine Grenze des Elends, welche uns und unsere Kinder erwartet. Jetzt durch die Verlegung des Leinpfades empfindet unser stĂ€dtisches Ărar3 einen bedeutenden Verlust, Fleischer, BĂ€cker, Brauer und andere GewerbetreiÂbende sehen ihre kĂ€rgliche Nahrung wieÂderum geschmĂ€lert, und mit Schauder fraÂgen wir uns, wohin soll das fĂŒhren? Werden wir nicht zu den Söhnen PreuĂens gezĂ€hlt? Ist es durchaus auf unseren gĂ€nzÂlichen Ruin abgesehen?â
Auch dieser letzte Notschrei verhallte unÂgehört. Wasserbau-Inspektor Lentze beseitigte das Bollwerk und nun ging der Leinpfad ungehindert an der Stadt vorbei. Die Epoche der Mechanisierung der Schifffahrt war mit aller Macht hereingeÂbrochen. Der Dampf hatte der Pferdekraft den Rang abgelaufen. In wenigen Jahren war von einer Schiffstreidelei keine Rede mehr. Solche Umschichtungen erfordern Opfer, groĂe Opfer, und die hat KaisersÂwerth bis zur Neige auskosten mĂŒssen.
Unterdessen sind heute Bollwerk, BĂ€r und die tragischen UmstĂ€nde, die sich daran knĂŒpften, vergessen. Niemand weiĂ mehr etwas davon. Und dass trotzdem der Begriff âBĂ€râ noch im Unterbewusstsein hier und da geistert, konnte ich kĂŒrzlich erfahren. Einem 82jĂ€hrigen Kaiserswerther, mit dem ich an Ort und Stelle ĂŒber den Eisbrecher gesprochen hatte, waren die Tatsachen völlig unbekannt und die Fundamente und die Pfahlreste beeindruckten ihn. Obwohl der Ausdruck âBĂ€râ bei der Unterhaltung nicht gefallen war, sagte er spontan zu mir: âWissen Sie auch, wie die Stelle, auf der wir hier stehen, geÂnannt wird? Sie heiĂt im Volksmund âBĂ€râ, und warum? Weil einst im Dom der goldene Suitbertusschrein gestohlen worden ist. Als die Diebe ihn an dieser Stelle aus der Stadt herausschaffen wollÂten, kam ihnen ein mĂ€chtiger BĂ€r entÂgegen. Vor Schreck lieĂen sie ihren Schatz stehen und flĂŒchteten.â Der Diebstahl ist natĂŒrlich Fabelei, das Volk wollte eine ErÂklĂ€rung haben zu der Bezeichnung âBĂ€râ an dieser Stelle. So haben wir hier ein frappierendes Beispiel, wie noch im letzten Jahrhundert Legenden und Sagen entÂstehen können.
Anmerkungen
1 âBĂ€râ = steinerner Damm, Wehr, Abriegelung eines (Festungs-)Grabens vom natĂŒrlichen Flusslauf; franz. Batardeau
2 Auch in Orsoy und einigen niederlĂ€ndischen Orten sind âBĂ€renâ historisch belegt
3 Ărar: Stadtkasse (von lat. aerarium = Geldkammer)
Bildunterschriften:
1 Stadtansicht Kaiserswerth von Westen, niederlÀndischer Stich, vor 1702
2 Treidelschifffahrt vor DĂŒsseldorf, Aquarell von Weyermann |