Heimat-Jahrbuch 2007

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Ein modernes Hotel mit historischem Charme
Vergangenheit, aus der Zukunft wird - Zur Geschichte des Mutterhauses der Kaiserswerther Diakonie an der Alten Landstraße
Von Ruth Felgentreff

Die kleine Stadt Kaiserswerth und die Kaiserswerther Diakonie haben eines gemeinsam: Wohin man auch sieht, auf Schritt und Tritt begegnet einem Geschichte. Und in diese Geschichte gehört das Mutterhaus hinein. Es begann eigentlich damit, dass Pastor Disselhoff, der Nachfolger Theodor Fliedners, eine gĂŒnstige Gelegenheit, die sich ihm unerwartet bot, beim Schopfe griff und damit langjĂ€hrigen MissstĂ€nden ein Ende bereitete.

Viele haben noch die Bilder der Hochwasserkatastrophen vom Sommer 2002 vor Augen. Bis 1926 stand Kaiserswerth in der Regel zweimal im Jahr unter Wasser. Die Folge: Das Wasser des Rheins drang in die Wohnungen und hin­terließ Feuchtigkeit und Schwamm in den GemĂ€uern. In den HĂ€usern der Diakonissenanstalt kam zu der Feuchtigkeit noch die immer bedrĂŒckendere Enge, die Leben und Arbeiten zusĂ€tzlich erschwerte. Und wenn der Arzt mit dem Kahn durch die Straßen fahren musste und seine Patientinnen und Patienten nur durch das Fenster des unteren Stockwerkes erreichen konnte, so liest sich das fĂŒr uns heute zunĂ€chst einmal amĂŒsant, fĂŒr die Beteiligten aber war das harter Alltag. Die SanitĂ€tsbehörden rannten mit ihrer Forderung nach Besserung der ZustĂ€nde offene TĂŒren ein. Allen war klar: Nur ein Neubau konnte die Lösung der Probleme bringen! Woher aber das Land nehmen?

Nur wenige Minuten vom StĂ€dtchen entfernt, lagen auf hochwasserfreiem GelĂ€nde die LĂ€ndereien des FĂŒrsten von Hatzfeld, als Fideikommiss jedoch unerreichbar, denn ein Fideikommiss durfte ohne landesherrliche Geneh­migung nicht geteilt werden. Fliedner musste das ungelöste Problem seinem Nachfolger Julius Disselhoff ĂŒberlassen.

Hochwasserfreies GelÀnde
Die Wende kam völlig unerwartet. Im September 1877 war in Kalkum ein Kaisermanöver angesagt. Der Kaiser und die Kaiserin sagten sich zum Tee beim FĂŒrsten von Hatzfeld an, und die Kaiserin plante außerdem noch einen Besuch in der Diakonissenanstalt. Dieser Besuch fand am 5. September 1877 statt. Pastor Disselhoff nutzte geschickt die Gelegenheit, um an Ort und Stelle von den bedrĂŒckenden Raumproblemen zu sprechen, die inzwischen sich zu einer Existenzfrage ausgeweitet hatten. Die Kaiserin konnte sich von der Richtigkeit der Darlegungen Disselhoffs persönlich ĂŒberzeugen. Pastor Disselhoff hatte Erfolg mit seinem Anschauungsunterricht. Er konnte zunĂ€chst Land auf dem Johannisberg und spĂ€ter auf dem Fronberg erwerben. Auf diesem zusammenhĂ€ngenden - hochwasserfreien - GelĂ€nde entstanden die neuen AnstaltsgebĂ€ude.

Die Kaiserswerther BĂŒrger beobachteten sehr bald, dass in der Diakonissenanstalt etwas in Bewegung geriet. 1878 wurde auf dem Johannisberg der Grundstein fĂŒr die neue Heilanstalt gelegt, die 1881 bereits eingeweiht wurde. FĂŒr die Kranken stand ein herrlicher Park zur VerfĂŒgung. Auf dem Teil des Fronbergs, der „Himmelreich“ hieß, erhielten die Waisenkinder ein neues Heim. Seit 1883 belebten Kinder das GelĂ€nde. Die Bebauung des Fronbergs hatte begonnen. Sehr bald stellten SpaziergĂ€nger auf dem Fronberg eine eifrige BautĂ€tigkeit fest: Die Arbeiten fĂŒr das neue Krankenhaus nahmen ihren Anfang. Zum 50-jĂ€hrigen JubilĂ€um der Diakonissenanstalt 1886 wurde schon das als VerwaltungsgebĂ€ude des Krankenhauses geplante Haus, das spĂ€tere Mutterhaus, eingeweiht.

Bei diesen Feierlichkeiten wuchs der Entschluss, auch die anderen Anstalten, besonders das Mutterhaus, aus dem StĂ€dtchen hinaus auf den Fronberg zu verlagern. Außerdem wurden noch ein Schwesternkrankenhaus, ein Feierabendhaus und als Mittelpunkt die Kirche geplant. Über dem Hauptportal des Mutterhauses befinden sich eine Taube mit dem Ölzweig sowie zwei Jahreszahlen 1836 - 1886. Sie bedeuten nicht nur zusammen fĂŒnfzig Jahre Geschichte der Diakonissenanstalt, sondern jede einzelne Zahl, fĂŒr sich genommen, bedeutet Neuanfang. Die Schrift gibt den Leitspruch Fliedners fĂŒr die Diakonissenanstalt wieder: Joh. 3, 30 - „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“. Heute buchstabieren sich die meisten Menschen mĂŒhsam durch den Text, damals, im 19. Jahrhundert (1886), gehörte er zum Kerngut christlichen Denkens.

Vom Entschluss zu bauen bis zur Grundsteinlegung vergingen 14 Jahre. Beauftragt wurde mit der Gestaltung des gesamten GebĂ€udekomplexes der Bielefelder Architekt Siebold, der in kirchlichen Kreisen recht bekannt war. Es entstand eine in sich geschlossene Einheit von Mutterhaus, Schwesternkrankenhaus, Feierabendhaus mit der Mutterhauskirche als Mittelpunkt. Das VerwaltungsgebĂ€ude sollte als Mutterhaus an seiner sĂŒdlichen und nördlichen Seite je einen FlĂŒgel erhalten, so wie wir es kennen. Am 21. Januar 1900, dem 100. Geburtstag Theodor Fliedners, wurde der Grundstein fĂŒr die Mutterhauskirche und damit fĂŒr die ganze Anstalt gelegt. Gut drei Jahre spĂ€ter fand am 7. Mai 1903 unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit die Einweihung statt. Sie war, wie wir heue sagen wĂŒrden, ein richtiges Medienereignis.

Feierliche Einweihung
Mit einem feierlichen Gottesdienst in der Stammhauskirche, gehalten von Georg Fliedner, dem Ă€ltesten Sohn Fliedners, nahm man von der Kirche und dem alten Mutterhaus Abschied. In einer langen Prozession zog man vom GartenhĂ€uschen zum Kaiserswerther Markt durch das StĂ€dtchen, die Schleifergasse und endlich durch die Pforte auf das neue GelĂ€nde. Die Zahl der Teilnehmer dieses Zuges verdanken wir Kaiserswerther BĂŒrgern. Sie standen interessiert am Straßenrand, genossen das wohl einmalige Schauspiel und zĂ€hlten 1.030 Teilnehmer! In allen Kaiserswerther Publikationen, besonders aber in den „GrĂŒĂŸen des Kaiserswerther Mutterhauses an seine Schwestern“ wurden die Feierlich­keiten so ausfĂŒhrlich geschildert, dass alle, die nicht in Kaiserswerth sein konnten, die Möglichkeit hatten, sie spĂ€ter nachzuerleben. In den „GrĂŒĂŸen” erfolgte zusĂ€tzlich eine sehr genaue Beschreibung der einzelnen RĂ€ume und ihre zukĂŒnftige Verwendung.

FĂŒr die Diakonissen bedeutete dieser Tag ein Abschiednehmen von etwas Vertrautem, das man samt seiner MĂ€ngel geliebt hatte. Er war aber zugleich ein hoffnungsvoller Aufbruch in neues, noch unbekanntes Land. Und das war der Plan fĂŒr die neuen Anstalten auf dem Fronberg: Das Mutterhaus sollte zum Zentrum fĂŒr die Diakonissenschaft und das Werk werden. Hier sollten die Vorprobe- und Probeschwestern fĂŒr ihr Leben in der Gemeinschaft vorbereitet werden. Hier sollten sie Fort- und Weiterbildung erfahren. Von hier aus sollten sie auf die vielen Stationen des In- und Auslandes ausgesandt werden und hierher sollten sie zurĂŒckkommen, um sich auszuruhen und neu aufzutanken. Hier sollten sie zu Hause sein und die Menschen finden, die sie fĂŒr ihren Weg vorbereitet hatten und die weiter bereit waren, ihnen Rat und Hilfe zu geben. Hier sollten sie vor allem Gemeinschaft erfahren. Ein großes Programm fĂŒr ein großes Haus! „Was wurde aus diesem Programm?”, wurde ich einmal gefragt. Das ist nicht nur eine Frage an mich, sondern an alle Schwestern, die jahrzehntelang durch dieses Haus gegangen sind. Als eine, die dazu gehört, möchte ich eine vorsichtige Antwort wagen: Wir haben in diesem Haus die RealitĂ€t des Alltags mit all ihren Höhen und Tiefen erfahren.

Wir haben dieses Haus geliebt und lieben es noch. Wir sind bei unserem Eintritt durch die Mutterhauspforte gegangen, je nach Temperament zögernd, hoffnungsvoll oder einfach neugierig auf das Kommende. Wir haben in diesem Haus gelebt. Wir haben das ABC des diakonischen Alltags gelernt. Wir wurden ausgesandt, um das Erlernte zu erproben oder um weiter zu lernen und den Horizont zu erweitern. Vor allem aber haben wir viel schwesterliche Gemeinschaft erfahren. Das Mutterhaus, in dem wir so viel erlebten, wurde immer mehr zum Mittelpunkt unseres Lebens. Und eines Tages kehrten wir zurĂŒck ins Mutterhaus, jede auf ihre besondere Weise. Eines Tages kamen wir nach Hause. Das Mutterhaus hat sein Programm, das gute alte, erfĂŒllt. Ihm sei Dank.

Neuorientierung
Das klingt jetzt nach Schluss, ist es aber nicht, denn das Mutterhaus hat 2003 einen neuen Weg beschritten. Wie das alte Mutterhaus hat es bereits ein Programm entwickelt, wie im alten Mutterhaus wird man es prĂŒfen und eventuell auch einmal Ă€ndern mĂŒssen. Wie im alten Mutterhaus werden Menschen aus- und eingehen, und sie werden mit an der Geschichte dieses Hauses schreiben. Es dient nun als Hotel und Tagungszentrum in einem denkmalgeschĂŒtzten Haus neugotischen Stils. 55 liebevoll eingerichtete Zimmer stehen den GĂ€sten zur VerfĂŒgung. Zur Zeit des Weltjugendtages im August 2005 waren im evangelischen Mutterhaus rund 40 katholische Bischöfe und KardinĂ€le aus aller Welt beherbergt. Auch die Schwesternschaft wird weiter in diesem Haus ihren Platz haben, als Ureinwohner sozusagen. Aber etwas ist anders als 1903 und wird auch anders bleiben: Auf die Schwestern zielt nun nicht mehr alles Planen im Haus. Sie sind eine Gruppe von vielen, die Ureinwohner, wie schon gesagt. Das mag ihnen vielleicht nicht so ganz leicht werden. Tatsachen haben es mitunter an sich, hart zu sein. Aber auch das ist eine Erfahrung: In ihrer Akzeptanz liegt Freiheit. So bleibt der Dank fĂŒr eine reiche Geschichte und der Wunsch um Gottes Segen fĂŒr die Zukunft. „Vergangenheit, aus der Zukunft wird”. Dieser Wunsch möge in ErfĂŒllung gehen.