Heimat-Jahrbuch 2003

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Il Tedesco buono - der gute Deutsche

Josef Schiffer kam als Besatzer und wurde zum Beschützer

Mitte Juli 2002. Am Telefon klingt seine Stimme jugendlich-engagiert. „Ja, natürlich bin ich damit einverstanden, daß Sie über mich im Wittlaerer Jahrbuch schreiben. Es ist wichtig, daß vor allem junge Leute von der Vergangenheit erfahren. Doch, ich würde mich auch sehr freuen, Sie persönlich kennenzulernen; sind Sie mobil? Dann könnten wir uns bei meiner Lebensgefährtin in Lintorf treffen, das ist nicht so weit von Wittlaer. Ich bin dort von Mittwoch bis Sonntag, und Frau Hirschmann würde sich auch freuen, Sie zu sehen. Wann? Ach so, ja, aber erst, wenn wir aus Italien zurück sind; ich rufe Sie Anfang August an - doch, ganz bestimmt, ich will ja nicht, daß sie mir wieder verloren gehen.“

August 2002. „Hallo, hier ist Schiffer. Wir sind aus Italien zurück von den Festlichkeiten für die Madonna und für Josef Schiffer. Leider können wir uns erst im September treffen, weil wir übermorgen in Urlaub fahren. Am 13.9. sind wir wieder hier, ich rufe dann sofort an.“ 16. September 2002. „Hallo, zurück vom Müritz-See; ja, wir haben uns gut erholt - wir haben Mittwoch, den 18. September abends zwischen 19.00 und 19.30 Uhr vorgesehen. Paßt Ihnen auch? Wir freuen uns.“ (Es folgt eine präzise Wegbeschreibung zu Gerda Hirschmanns Wohnung.) Mittwoch, 18.9.2002, 19.20 Uhr. Ein älterer Herr mit Brille, im eleganten zweifarbigen Pullover kommt uns aus dem Hauseingang entgegen. „Ich habe Sie gerade vorbeifahren sehen - nein, in der Kurve vor dem Haus kann man ja nicht gut parken, da mußten sie schon ein paar Meter weiter fahren. Schön, daß Sie da sind, haben Sie den Weg gut gefunden?“ „Ihre Beschreibung war so gut, da konnte ich es gar nicht verfehlen. Ich freue mich sehr, Ihnen nun life zu begegnen.“ Und dieser Herr sollte 88 Jahre alt sein? Oben in der Wohnung empfängt uns seine Lebensgefährtin; zierlich, lebhaft, charmant, ziemlich viel jünger als er - beide gleich auf den ersten Blick sehr sympathisch, überhaupt nicht fremd.

„Also, Italien war ganz wunderbar; es war der Höhepunkt der Ehrungen seit 1995, als wir zum ersten Mal dort waren.“ Vom 25.-28. Juli 2002 fanden die jährlichen Dankesfesttage für die Madonna di Carafà in Pallerone statt - ein Volksfest mit religiösem Hintergrund. Eine große Prozession, bei der die Madonna aus dem Dorf in ihre Kapelle in den Weinbergen (der Carafà genannten Landschaft oberhalb Pallerones) hinaufgetragen wird. Rosenkranzandachten, Musik als abendliches Konzert und als Begleitung der Umzüge durch die uniformierte Blaskapelle, Kinderbelustigungen, Picknick, Tanz und Feuerwerk - das ist das für gewöhnlich wiederkehrende Festprogramm. Dieses Mal aber fand am 2. Festtag etwas ganz Besonderes statt: Im Beisein des Bürgermeisters Barani von Aulla, der regionalen Politikergrößen, der hohen Geistlichkeit von Aulla (Pallerone ist ein Ortsteil von Aulla) und Vertretern der Stadt Düsseldorf (Beigeordneter Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff), sollte ein lebensgroßes Wandgemälde von dem jungen Josef Schiffer in deutscher Wehrmachtsuniform feierlich enthüllt und eingeweiht werden. (Ausgerechnet in der Uniform, die Synonym ist für unendliches Elend in Europa.)

Eigenhändig durfte Schiffer das rot-weiße Band, das den Eintritt in die Kapelle noch verwehrte, durchschneiden und als erster den Raum betreten. „Ja, ich in der 1. Reihe - hinter mir die hohen Herren, der Priester, der Bürgermeister, Fahnen, Musikkapellen, all die vielen Menschen aus Pallerone und Aulla - das war ganz unglaublich. Da kann man nichts mehr sagen.“ Gerda Hirschmann nickt zustimmend, „da war man so beeindruckt und einfach sprachlos.“

Inzwischen hat Josef Schiffer die Sprache wiedergefunden, er erzählt lebhaft, begeistert, glücklich, auch stolz, aber kein bißchen eingebildet. Er ist einfach nur froh, daß die Menschlichkeit, die ihm so selbstverständlich erschien, lebensrettend war und nun in so überwältigender Weise geehrt, geliebt und hochgeachtet wird. „Niemals und in keinem Punkt der Erde hätte ich anders handeln können. - Man kann sich gar nicht vorstellen, wie herzlich, ja überschwänglich die Italiener sind! Der Bischof fragt mich, ob er mich küssen dürfte; in der Sonntagsmesse unterbricht der Priester seine Predigt bei unserem Anblick und fängt an, meine Geschichte von damals zu erzählen; die beiden Carabinieri, die uns im Polizeiauto mit Martinshorn und Blaulicht am Flughafen Pisa abholen und während der ganzen Feierwoche zu unserer Verfügung stehen, rechnen es sich zur Ehre an, uns den kleinsten Weg fahren zu dürfen. Das war allerdings manchmal die letzte Rettung, um noch rechteitig einen Ort und Termin zu erreichen: ein Fußweg von normalerweise 10 Minuten konnte bis zu zwei Stunden dauern, weil so viele Menschen uns sehen, begrüßen, küssen und sprechen wollten. Kein Staatsmann könnte so empfangen werden wie wir. ,Wenn Schiffer in Pallerone ist, ruht das gesamte öffentliche Leben‘.“

Die Madonna und der deutsche Soldat im Heiligtum in der Carafà - zur Erinnerung an diesen bedeutenden Tag gibt es ein kostbares, farbig gefaßtes Silberrelief der Landschaft mit der Kapelle im Mittelpunkt; Seidenpolster als Passepartout, breit gerahmt in edlem Holz. Auf der Rückseite die Widmung: Dem Josef Schiffer, daß der Wert seiner heldenhaften Taten für immer in der Bevölkerung von Pallerone erhalten bleiben möge und nie in Vergessenheit gerate. Pallerone, 26.7.2002. Neben diesem Bild hängt eine flache Silberschale, auf der zu lesen ist, daß Josef Schiffer im Jahre 2002 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Aulla verliehen worden ist. Ein weiterer Silberteller mit feiner Gravur hat folgende Inschrift: „Eine Gesellschaft hat immer das Bedürfnis, über die eigene Vergangenheit zu entscheiden, um die eigene Zukunft zu bestimmen“ (Jean Chesseaux). Es sind schon 50 Jahre vergangen, die Geschichte nahm ihren Lauf, aber die Palleronesen werden Dich nie vergessen. Danke Josef. Pallerone am 29.Juli 1995

Ebenfalls aus dem Jahre 1995 ist die Goldmedaille der Stadt Aulla, die Bürgermeister Barani dem Ehrengast Schiffer am grün-weiß-roten Bande um den Hals legte. (Baranis Großvater, Annibale Colecchio sollte 1944 von deutschen Soldaten erschossen werden, als Josef Schiffer ihn in letzter Minute durch sein beherztes Auftreten retten konnte.) Die Zeitungen in Italien schrieben 1995: ,Aulla umarmt Josef Schiffer‘, und Prof. Peyretti gibt seinem Artikel die Ãœberschrift: ,Mehr Mensch als Soldat‘. Im selben Goldrahmen auf blauem Samt wie die Goldmedaille ist ein hoher Orden des italienischen Staates zu sehen (vergleichbar dem Bundesverdienstkreuz am Bande). Im Jahre 1999 wurde dieser Orden im Namen des Staatspräsidenten Scalfero vom italienischen Generalkonsul zu Köln verliehen, und Schiffer dadurch in den Rang eines Commendatore della Repubblica Italiana erhoben. Und was war denn nun eigentlich 1945 in Pallerone geschehen?

Retter von Pallerone
Der Oberfeldwebel Josef Schiffer, von Beruf Feuerwerker, schreibt in seinem Lebenslauf: „1944 wurde ich in Selbstverantwortung für die Fertigung und Abnahme eingesetzt (Pulver und Sprengstoff) und hatte drei Fabriken zu betreuen und war dem Heeres-Waffenamt, Außenstelle Como, Italien, unterstellt. Bei Unregelmäßigkeiten durchziehender Soldaten zur und von der Front, ergab es sich, daß ich von der notleidenden Bevölkerung von Pallerone und Umgebung oft zur Hilfe gerufen wurde. Ich mußte diese auch leisten, weil ein großer Teil der Leute in den Werken beschäftigt waren und sie mit einem deutschen Ausweis versehen waren. Bei allen diesen meinen Handlungen stellte ich stets Menschlichkeit und Humanität in den Vordergrund und konnte somit die Bevölkerung vor Leid, Trauer und Schäden bewahren, dies besonders bei Razzien, oder wenn Menschen erschossen werden sollten.

Am Ende des Krieges kam der Befehl, die Fabriken zu sprengen, was die Zerstörung ganzer Dörfer und großes Blutvergießen zur Folge gehabt hätte. Ich verminte das Fabrikgelände in Pallerone, da ich ebenfalls von einem General namens Fretter-Picco, der nicht weit von Pallerone im Quartier lag, den Befehl hatte, das gesamte Fabrikgelände beim Rückzug zu sprengen. Als letzter Soldat in dieser Zone setzte ich mich ab, ohne die Minen zu zünden.“ Jeder, der die Zeit der Nazidiktatur und den 2. Weltkrieg miterlebt hat, weiß, daß auf Befehlsverweigerung Tod durch Erschießen stand. Wohlwissend um seine akute Lebensgefahr, wagte Schiffer die Entscheidung für die Menschen und gegen die Vernichtung. Auch im Kriege war seine Maxime, das Unglück nicht etwa zu fördern, sondern es zu vermeiden. Eigenverantwortung bedeutete ihm immer, als Mensch vor seinem Gewissen und seinem Vaterland das Rechte zu tun. Oft hat er sich seiner Wehrmachtsuniform geschämt, und durch sein Handeln zu zeigen versucht,daß deutsche Lebensart und Menschlichkeit sich ganz klar von den Nazi-Kriegsverbrechen unterscheiden.

Aus Partisanengefangenschaft befreit „Beim Rückzug geriet ich in Partisanengefangenschaft, wurde aber bald durch den Einsatz der dortigen Ordensschwestern und dem in Pontremoli ansässigen Bischof Giovanni Sismundi befreit und durfte mit dem ersten Gefangenentransport von Pisa aus die Heimreise antreten.“ Ein damals 9jähriger Junge, Enrico Pegnetti, hatte diese Szene beobachtet; inzwischen ist er Professor der Geschichte in Turin und hat anläßlich der Feiern zum 50. Jahrestag der Befreiung und der Renovierung jener Kapelle der Madonna di Carafà, die bei Kriegsende aus Dankbarkeit fürs Ãœberleben notdürftig (mit Schiffers tatkräftiger Unterstützung) erbaut worden war, den Retter von Pallerone Josef Schiffer in Deutschland/Düsseldorf aufgespürt. So wurde Schiffer 1995 mit seiner Lebensgefährtin zu dieser Gedenkfeier eingeladen und - für ihn völlig überraschend - wie eine Held gefeiert. Menschen seiner Generation hatten die Geschichte von der Rettung ihres Dorfes Kindern und Enkeln weitererzählt, so daß Schiffer nun wirklich für alle Palleronesen vom Baby bis zur Oma „il tedesco buono“ ist. Die Zeitung titelte: ,Er kam als Besatzer und wurde zum Beschützer‘.

Voller Freude konnte er an diesem Tage auch seinerseits besonderen Dank sagen: Er traf seine Retterinnen vor den Partisanen, Anna Maria und Lordana Agnetti. Der Zeitung „Il Tireno“ sagt er nach diesen bewegenden Festtagen: „Ich bin gerührt und nach so langer Zeit glücklich, daß ich den telefonisch erhaltenen Befehl, die Fabrik zu sprengen, nicht ausgeführt habe. Ich wollte keine weiteren Zerstörungen, wo doch der Krieg verloren und zu Ende war. ,Tue Gutes, dann erfährst auch Du Gutes‘, war und ist immer mein Motto und heute ernte ich, was ich gesät habe. Mein Handeln und Tun betrachte ich als normal und sehe mich nicht als Held.“ Prof. Giulivo Ricci schrieb ein Buch über Josef Schiffer, das 1999 in 5. Auflage erschien, herausgegeben von der Stadtverwaltung Aulla, in Zusammenarbeit mit dem Zentrum Aullese für Forschung und Studien lunigianesi, dessen Präsident G. Ricci ist: Josef Schiffer: Der gute Deutsche. Der Mann, der Pallerone rettete. Autor: Giulivo Ricci. Mit einem Anhang von Silva Collecchia.

Ricci war 1951 junger Bürgermeister von Aulla gewesen, lernte damals Schiffer kennen und begann später, sich für dessen Geschichte zu interessieren, zu recherchieren, was dann schließlich zu diesem Buch führte. Im Laufe der Zeit entstand aus der zunächst ganz sachlichen Korrespondenz über die Ereignisse von 1944-45 eine herzliche Freundschaft. Im Anhang erzählt Silva Collecchia die Geschichte von Giovanna Collecchia, der ersten Frau Josef Schiffers, die nach einigen gemeinsamen Jahren in Düsseldorf aus gesundheitlichen Gründen wieder nach Italien zurückkehrte und sich von Schiffer trennte. Sie baute sich dort ihr eigenes Leben auf und erinnert sich noch nach über 30 Jahren mit großer Freundlichkeit an die deutsche Verwandschaft und an ihre Zeit in Deutschland.

Josef Schiffer ist noch heute, mit 88 Jahren unermüdlich tätig für Frieden und Menschlichkeit. Er hält an vielen Schulen hier in der Region und bei Veranstaltungen der Düsseldorfer Mahn- und Gedenkstätte Vorträge über seine Tätigkeit während des Krieges in Italien. Ihm ist wichtig, vor allem junge Menschen zu ermutigen, sich für Andere einzusetzen, sich einzumischen, wenn die Menschenwürde oder gar das Leben in Gefahr sind. So mischt er sich auch heute noch ein, wenn er in seiner Wohngegend in Wersten im Umgang von Deutschen mit Türken rassistische Einstellungen erkennt. „Ich meine, daß sonst die Werte unserer Verfassung tote Buchstabe blieben, wenn sich niemand verpflichtet fühlen würde, sie mit Leben zu erfüllen und sich dort einzumischen, wo es um allgemeines Interesse geht...!“

In Josef Schiffer begegnet uns nicht nur ein „guter Deutscher“, sondern ein guter und aufrechter Mensch.

Karin Wellschmiedt