Heimat-Jahrbuch 2003

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Das Ende einer langen Familientradition

Fahrrad-Oberholz schloß nach 83 Jahren zum 31. Mai 2002

Vor dem Ladenfenster ist die Jalousie heruntergelassen, das bisher so weit geöffnete Hoftor ist geschlossen. Viele Menschen, für die das kleine Haus an der Lohausener Niederrheinstraße über Jahrzehnte mehr als nur ein Geschäft war, werden bei diesem Anblick ein wenig Wehmut empfinden. Denn wieder ist mit seiner Schließung auch ein Stück Nostalgie verloren gegangen, für das in unserer modernen Zeit kein Platz mehr ist.

Das Haus der Witwe Simon
Das Häuschen ist Zeitzeuge aus zwei bewegten Jahrhunderten. Vorliegende Dokumente belegen, daß es im Jahre 1859 in den Besitz der Familie Hintz/Oberholz gelangte. „Im Namen Seiner Majestät des Königs, Wir Wilhelm von Gottes Gnaden, Prinz von Preußen Regent“ hat der Kaiserswerther Notar Rudolph Roffers „kund“ getan, daß die Witwe Simon dem Chaussee-Aufseher Carl Hintz das von ihr bewohnte, an der Kaiserswerther/Düsseldorfer Chaussee gelegene mit der No. 13 bezeichnete Wohnhaus nebst Garten und Ackerland zum vollen unwiderruflichen Eigentum verkauft und wie folgt überträgt:
a) einen Morgen 38 Ruthen Ackerland an der Landstr. No. 221, Reinertrag 2 Thaler 20 Groschen
b) 28 Ruthen 70 Haus daselbst No. 223 der Parzelle, Reinertrag 3 Thaler 22 Groschen
c) 48 Ruthen 10 für Garten daselbst No. 224 der Parzelle, Reinertrag 4 Thaler 10 Groschen 1 Pfennig.

Im weiteren Text des in ausgeglichen schöner Deutscher Schreibschrift verfaßten Kaufvertrages heißt es: „Der Kaufpreis ist auf 680 Thaler Preußisch Courant vereinbart und festgesetzt. Die Verkäuferinn bekennt, hieraus 200 Thaler von dem Ankäufer empfangen zu haben, ... zu fernerem Abschlag übernimmt der Ankäufer als seine persönliche Schuld zur Entlastung der Verkäuferinn das auf den verkauften Immobilien zu Gunsten der Lambertus Kirche in Düsseldorf haftende Passivkapital von 320 Thalern. ... Der zu Calcum wohnende Ackerknecht Friedrich Simon bestätigt, im vorbezogenen Verkaufsprotokoll des Notars Floeken in Uerdingen vom 8. Mai 1845 in der gerichtlichen Theilungssache Simon contra Simon seinen Antheil erhalten zu haben. Die Urkunde wurde in der Amtsstube des fungierenden Notars am 11. März 1859 aufgenommen und verlesen, wobei die Wittwe Simon als Handzeichen ein Kreuzzeichen beisetzte, erklärend im Schreiben, Unterschreiben und Fertigen eines Handzeichens unerfahren zu sein, während die übrigen erschienenen Personen, nach Name, Stand und Wohnort bekannt, unterschrieben.“

Zu der Zeit bestand Lohausen aus einzelnen kleinen Bauernsiedlungen. Mit der auslaufenden Biedermeierzeit schien die Welt noch in Ordnung. Da drängt sich das Bild von der „guten alten Zeit“ auf, als die Postkutschen über unbefestigte Wege rumpelten, von unberührten Landschaften und üppigen Wiesen, von Männern in Bratenrock und Zylinder. Bis mit der Wende zum Massen- und Industriezeitalter nach 1850 politische Unterdrückung und wirtschaftliche Not der geruhsamen Zeit ein Ende setzten.

Eingebunden in die Dorfgemeinschaft
Die 1857 geborene Tochter des Carl Hintz, Helena Angela Wilhelmina, heiratete im Jahre 1883 den gleichaltrigen August Oberholz, mit dem sie zunächst in Lintorf lebte, wo sechs ihrer acht Kinder geboren wurden. 1897 zog die Familie in das elterliche Haus nach Lohausen. Die Eheleute waren in der Dorfgemeinschaft überaus beliebt. Mit Herz und Seele hatten sie sich im Brauchtum engagiert. Aus Anlaß ihrer goldenen Hochzeit zog am Abend des 12. Oktober 1933 ein großer Fackelzug durch Lohausen, mit dem Kameraden der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft, der Freiwilligen Feuerwehr u.a. mit Musikkapellen und Chören das Jubelpaar ehrten.

Ihr volkstümliches Naturell, verbunden mit der Bereitschaft, sich immer Zeit für nachbarschaftliche Sorgen zu nehmen, erwies sich als wertvolles Erbe auch für die nächste Generation. Der 1891 geborene Sohn August Oberholz jun. eröffnete 1919 in dem umgebauten kleinen Haus an der Niederrheinstraße seinen „Zweiradhandel mit Reparaturwerkstatt“, die im Laufe der Jahre beliebter Treffpunkt für nachbarschaftlichen Gedankenaustausch wurde. Auch August Oberholz jun. war im Brauchtum stark verwurzelt. Im Jahre 1934 wurde er aus den Reihen der Andreas-Hofer-Kompanie als erster zum Regimetntskönig gekrönt. Bis zu seinem plötzlichen Tode waren Laden und Werkstatt sein Lebensinhalt.

Als August Oberholz im Jahre 1972 82jährig starb, übernahm Tochter Herta sein Lebenswerk. Sie hatte das Schneiderhandwerk erlernt, war jedoch dem Vater seit langer Zeit zur Hand gegangen und kannte sich danach perfekt mit allem aus, was zwei Räder hatte. Die Energiekrise des Jahres 1973, die einen wahren Fahrradboom auslöste, forderte von ihr bereits eine harte Bewährungsprobe. Sehr froh war die junge Geschäftsinhaberin daher, als ihr das Schicksal 1974 Jozef Theunissen aus dem niederländischen Limburg als Aushilfe ins Haus sandte. Herta Oberholz gewöhnte sich schnell an den sympathischen Holländer und in kurzer Zeit wuchsen sie zu dem bewährten Team zusammen, das dem Fachgeschäft über Jahrzehnte sein unverwechselbares Gesicht verlieh.

In dem ursprünglichen Bauernhaus mit seiner mehr als 200jährigen Vergangenheit erinnert ein Ölgemälde an den romantischen Ausblick, den es noch vor knapp einem halben Jahrhundert bot: Endloses Wiesengrün, in der Ferne das baumumstandene Kartäuser-Kloster, dessen Glockenläuten sich für Herta Oberholz mit Kindheitserinnerungen verbindet. „Vieles ist nicht mehr wie früher, seitdem wir von Gewerbe umgeben sind“, sagt die 72jährige nachdenklich, „aber ich möchte einfach das Haus nicht verlassen, in dem schon die Großeltern und Urgroßeltern gelebt haben.“

Eike Schulz-Fuhlendorf