Heimat-Jahrbuch 2003

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Der Fotokünstler Ulrich Hensel

Der Fotokünstler Ulrich Hensel

Ulrich Hensel lebt in Kaiserswerth, wurde weder zum bildenden Künstler noch zum Berufsfotografen ausgebildet, will die handwerklichen Fähigkeiten zur Erstellung großformatiger Negative nicht beherrschen und findet doch mit seinen Arbeiten Eingang in die prominenteste amerikanische Fachzeitschrift für zeitgenössische Fotografie. Das Magazin „Flash Art“ rezensierte in seiner Mai/Juni – Ausgabe 2002 die erste Präsentation der Werke Hensels in der Düsseldorfer Galerie Thomas Taubert und goutierte damit analog zum Veranstalter eine künstlerische Leistung, der Taubert die Ausrichtung einer Einzelausstellung würdig erschien. Von Februar bis Mai 2002 konnte man hier, an einem der wichtigsten rheinischen Ausstellungsorte für zeitgenössische Standpunkte in der bildenden Kunst die Fotografien eines Künstlers sehen, die nicht nur einem ungewöhnlichen Entstehungsprozeß unterliegen, sondern diesem Medium auch inhaltlich vollkommen neue Impulse verleihen, Aspekte, die Hensels Arbeiten mittlerweile für mehrere europäische Museen interessant werden läßt.

Hensels künstlerische Leistung bezieht sich nämlich uneingeschränkt – und hierin liegt in formaler Hinsicht bereits das Kuriose – auf das Erkennen der Motive. Die handwerkliche Umsetzung wird nicht mehr von ihm, sondern von professionellen Berufsfotografen geleistet. Ähnlich der Arbeitsweise eines Regisseurs liegt der Schwerpunkt des künstlerischen Handelns somit auf dem eigentlichen Sehvorgang. Ebenso ungewöhnlich ist die quantitative Bildmenge, die Hensel seit den 90er Jahren zusammentrug. Lediglich 22 Arbeiten veröffentlichte er im letzten Jahrzehnt und belegt damit nachhaltig, welch hohe qualitative Maßstäbe dem Schaffensprozeß zugrunde liegen. Jeweils vergrößert auf annähernd 6 m² reiht er sich damit formal in die Riege der Düsseldorfer Foto-Shooting-Stars um Andreas Gurski, Thomas Demand und Thomas Ruff ein, deren Arbeiten zeitgleich im neuen Kunstpalast zu sehen waren.

Inhaltlich setzte sich der Künstler bislang nur mit einem Themenkreis auseinander und findet seine Motive fast ausschließlich in Häuserwänden und Mauerfragmenten, die im Rahmen von Veränderungen an Gebäuden metamorphosische Zustände wiedergaben. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Werkgruppen unterscheiden. Während einige Arbeiten Wände abbilden, auf denen morbide, sich auflösende und deformierte Strukturen vorherrschen, zeigt der größere Teil der Fotografien glatte Neubauwände, die kurz zuvor errichtet wurden. Alle Motive unterliegen dabei einem dogmatischen künstlerischen Prinzip: Es sind niemals Inszenierungen. Und genau diese Versicherung des Künstlers irritiert angesichts des wohlkalkulierten Bildaufbaus, der Beziehungen aller Bilddetails zueinander sowie der miteinander korrespondierenden Farbwerte. An dieser Stelle fragt sich der Betrachter dann unwillkürlich, wieso er diese Komposition, dieses unwillkürlich natürliche und scheinbar doch kreativ gestaltete Kunstwollen nicht selber in seiner Alltagswelt wahrnimmt.

Hier lehrt uns Hensel die visuelle Wahrnehmung neu. Gleichsam didaktisch zeigt er auf, welche Aussagekraft in ephemeren Erscheinungsformen verborgen sein kann. Im Wissen um die zeitliche Vergänglichkeit des Dargestellten – denn schon im nächsten Augenblick kann ein Maurer dieses „Bild“ verändern – wird die universelle Weisheit „Der Weg ist das Ziel“ geradezu sinnbildlich. Dabei kann der Künstler aus einem Fundus an spirituellen Erfahrungen schöpfen, die dem gelernten Psychologen mit dem Ausbildungsschwerpunkt Kunst während jahrelanger Aufenthalte in Indien zuteil wurden. Die Motive wirken bei intensiver Auseinandersetzung auf den Betrachter atmosphärisch wie Darstellungen weiter Landschaften, obwohl die Tiefendimension nur eine untergeordnete Rolle spielt. Ruhe, Ausgeglichenheit und Harmonie schaffen gleichsam eine transzendentale Dimensionalität, die für Arbeiten beider Werkgruppen zutrifft. Dabei bleibt es aber nicht. Die Mehrfachlesbarkeit ermöglicht dem Betrachter die Erschließung weiterer Sinnschichten, die sich aus dem permanenten Eindruck der Verrätselung einstellt.

Im Gegensatz zu der kleineren, detailreicheren Gruppe der morbiden „Vergänglichkeit“ weist die überwiegende Anzahl in ihrer farbigen, kaum strukturierten Flächigkeit über das Medium der Fotografie hinaus. Die Motive greifen dabei die Darstellungsmöglichkeiten der klassischen Malerei auf und setzen sie in der Ästhetik von heute fort. Darüber hinaus wirken sie aber wiederum durch einzelne Bilddetails im fotografischen Sinne objekthaft. Malerei und Fotografie gehen die Symbiose eines natürlichen Ganzen ein.

Hinsichtlich der „klassischen“ Entstehung seiner Arbeiten verweisen die Darstellungen dabei auf einen Künstler, für den in Hinblick auf seine außergewöhnlichen visuellen Fähigkeiten die Bezeichnung im ureigensten Wortsinn zutrifft. Ein übersteigertes Wahrnehmungsempfinden wird von vielen zeitgenössischen Kunstschaffenden beansprucht, jedoch nur selten eingelöst. Ulrich Hensel gelingt dabei etwas, was schon immer Kennzeichen bedeutender Kunst war: Das künstlerische Medium im klassischen Sinne benutzen und dann aber über das bereits Gesagte hinausgehen und neue Wege aufzeigen. Seine Fotografien erinnern an viele Filme François Truffauts. Sie scheinen nichts zu zeigen, aber sie zeigen alles.

Andreas Schroyen