Heimat-Jahrbuch 2003

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Ungarn in Wittlaer

Etwa 100 Personen fanden hier nach dem Zweiten Weltkrieg vorübergehend ein neues Zuhause

Als mein Vater, Oberst Rudolf Resch, in Budapest (Ungarn) 1944 den Auftrag bekam, eine ungarische Panzerausbildungstruppe, die bereits im Einsatz gestanden hatte, ins damalige Deutsche Reich zu bringen, waren einige Offiziersfrauen mit ihren Familien, so auch meine Mutter, kurz entschlossen mit der Truppe gezogen, um den Russen nicht in die Hände zu fallen. Ende 1944 setzte sich der Konvoi, immer den Kanonendonner der herannahenden Russen in den Ohren, in Richtung Preßburg (heute Bratislava in der Slowakischen Republik und bis zum Trianoner Vertrag 1920 zu Ungarn gehörend) in Marsch. In Etappen ging es über Österreich dem vorgeschriebenen Ziel Eggenfelden südlich von Passau entgegen. Schließlich landete der Verband in Wegscheid östlich von Passau. Hier fanden letzte Kampfhandlungen des 2. Weltkrieges mit den Amerikanern statt. Auch die ungarischen Soldaten kamen in amerikanische Kriegsgefangenschaft nach Plattling bei Deggendorf sowie Tittling im Bayerischen Wald und zuletzt ins Lager Pocking südlich von Passau. Dieses Lager ist im Kriege eine Ausbildungsstätte für Flugschüler an Messerschmitt Me 104 Jagdflugzeugen gewesen.

Mein Vater wurde von den Amerikanern als Lagerkommandant eingesetzt. Später wurden die Familien der Offiziere aus der Umgebung in das Waldlager nachgeholt. Es befand sich in der Nähe des heutigen Kurortes Bad Füssing, den es damals noch nicht gab. In Lagernähe war lediglich ein Holzschuppen mit einer heißen Quelle und davor ein Teich mit warmem Wasser, in dem wir im Sommer 1945 und 1946 als Kinder badeten. Inzwischen hatte mein Vater erfahren, daß sich sein ehemaliger Vorgesetzter, Generaloberst Hugo Sonyi, mit anderen ungarischen Offizieren im englischen Gefangenenlager in Lintorf befand. Er setzte sich mit den amerikanischen Militärs in Verbindung, um eine Gruppe von Offizieren mit deren Familien von Pocking nach Lintorf zu überstellen. Die Amerikaner fragten ihn: „Warum wollen Sie aus diesem Lager in relativer Freiheit in das britische Lager hinter Stacheldraht?“ Mein Vater erklärte ihnen wohl, daß er großen Wert darauf legte, mit den anderen ungarischen Landsleuten zusammen zu sein. Daraufhin organisierten die Amerikaner mehrere Waggons der Reichsbahn, und nun begann eine beschwerliche Reise über mehrere Wochen, da in ganz Deutschland die Bahnanlagen durch den Krieg stark zerstört waren.

Ãœber Regensburg, Nürnberg, Gießen und Marburg führte die Reise nach Düsseldorf und schließlich nach Lintorf. Hier wurden wir auf englische Militärfahrzeuge verladen und tatsächlich hinter hohe Stacheldrahtzäune verbracht. Wenn man aus dem Lager heraus in die nähere Umgebung wollte, z.B. nach Lintorf oder gar nach Düsseldorf, mußte man erst die Genehmigung der Engländer einholen. Trotzdem stellte sich eine gewisse Normalität ein. So wurde sogar im Lager geheiratet. Kraft seines Ranges, wie es auch einem Kapitän zur See zusteht, traute mein Vater u.a. das Ehepaar Gaal. Im Herbst 1946 wurden die Familien auf die umliegenden Orte, so auch auf Wittlaer verteilt. Eine Delegation, bestehend aus britischen Militärs, ungarischen Offizieren unter Führung von Oberst Resch sowie dem von den Alliierten eingesetzten Wittlaerer Bürgermeister Milchsack stellte die Quartiere für ca. 100 Ungarn in Wittlaer und Umgebung fest. In der darauf folgenden Zeit kümmerte sich Rudolf Resch um alle Belange seiner Landsleute, die teilweise kein Deutsch konnten und auf die Hilfe der deutschsprechenden Ungarn angewiesen waren. Die Kinder der ungarischen Familien gingen teils in die Wittlaerer, teils in die Kalkumer Schule. Pastor Nándor Kálozdy, der nach dem Kriege aus seiner ungarischen Heimat nach Deutschland vertrieben wurde, betreute seelsorgerisch seine heimatverlustigen Landsleute in Wittlaer und Umgebung. Einmal im Monat hielt er Messe in der Wittlaerer Pfarrkirche St. Remigius. Anschließend traf sich die ungarische Gemeinde in der Gaststätte Brands Jupp. Auf Schloß Linnep beim Grafen von Spee fand Pastor Kálozdy – der ursprünglich deutsche Familienname war Kahler - ein neues Zuhause. Nach seinem Tod 1962 wurde er auf dem dortigen Waldfriedhof beigesetzt.

Die Nachkriegszeit stellte die ungarischen Offiziere vor die Aufgabe, sich beruflich umzustellen. So wurden sie z.B. Schneidermeister, Maurerpolier, Gärtner und Stahlarbeiter. Nach und nach wanderten viele Familien u.a. nach Amerika, Australien, Venezuela und Kanada aus. Einige der Familien fuhren auch zurück in ihre Heimat. Durch Briefe und Bilder aus Übersee hielten manche noch lange Kontakt zu Wittlaer. Einer von ihnen ist vor Jahren aus den USA zum Wittlaerer Schützenfest angereist. In Wittlaer verblieb zuletzt nur noch eine Familie: unsere Familie, die Familie Resch.

Im Sommer 2001, bei einem Urlaubsaufenthalt im Bayerischen Wald, besuchte ich den Bürgermeister der Gemeinde Tittling, Herrn Herbert Zauhar. Bei einem informativen und herzlichen Gespräch erkundigte ich mich nach dem amerikanischen Internierungslager. Er zeigte mir alte Fotos, schenkte mir davon Kopien, wie auch ein Sonderheft zum Kriegsgeschehen im April 1945 mit dem Titel: „Die Amerikaner kommen“, Frühjahr 1945.

Georg Resch