Heimat-Jahrbuch 2003

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25 Jahre auf einem „Schiffchen“

Meisterkoch Jean-Claude Bourgueil hat Kaiserswerth erneut berühmt gemacht

Vor 25 Jahren kam Jean-Claude Bourgueil zum erstenmal nach Kaiserswerth und fühlte sich ein bißchen so, als ob er nach Hause gekommen wäre. Kopfsteinpflaster auf den Straßen, alte Fassaden - von denen damals manche noch nicht so perfekt renoviert waren wie heute, sondern ziemlich mitgenommen aussahen -, der Marktplatz mit den hohen Bäumen, die Lage am Fluß - das alles wirkte sehr französisch und erinnerte ihn an seine Heimat. „Ich stamme aus dem Loire-Tal, das durch die Schlösser der französischen Könige berühmt ist, und Kaiserswerth ist ebenfalls von großen Herrschern geprägt, am stärksten wohl von Friedrich I., besser bekannt als Barbarossa, der Rotbart, der 1174 den Rheinzoll hierher verlegte und die Pfalz als kaiserliches Bollwerk ausbaute. Neben Barbarossa haben zwei weitere große Männer der Stadt Bedeutung verliehen: Der angelsächsische Missionar Suitbertus, der auf dem Werth, der Insel im Strom, ein Kloster gründete und Theodor Fliedner, der 1822 als junger evangelischer Pastor in das verarmte Städtchen kam und dort die Diakonissenanstalt am Markt errichtete, die heute in vielen Ländern arbeitet.“

Wer von einem Meisterkoch nur Rezepte erwartet, wundert sich über diese Kenntnisse. Und wird anschließend durch die Ansicht verblüfft, daß Düsseldorf eigentlich Kaiserswerth heißen müsse. Denn schließlich habe die ehemalige Kaiserstadt eine 1300jährige Geschichte vorzuweisen, sei somit viel älter als Düsseldorf, und die Eingemeindung von 1929 hätte unter umgekehrten Vorzeichen stattfinden müssen. Jedenfalls habe die Düsseldorfer Stadtverwaltung nicht den geringsten Grund, den nördlichen Stadtteil als provinziell anzusehen, erbost sich der Wahl-Kaiserswerther, der es geschafft hat, den Glanz vieler Michelin-Sterne über dem „Schiffchen“ leuchten zu lassen.

Jean-Claude Bourgueil hält das „Schiffchen“ für das schönste Haus von Kaiserswerth und begeisterte sich für dessen Geschichte genauso wie sein erster Vermieter, der Journalist und Publizist Dr. Hans Stöcker. Der hatte damals in dem jungen Franzosen einen interessierten Zuhörer, besonders, wenn er von seiner Kindheit im „Schiffchen“ und seinem Großvater Karl Flader erzählte, der ein Experte für Heimatkunde war und jede Frage nach Kaiserswerths Vergangenheit beantworten konnte.

Karl Flader legte selbst im hohen Alter noch Wert darauf, daß er immer nur korrekt gekleidet gesehen wurde, also mit silberner oder dunkler Weste unter dem dunklen Anzug, über die sich eine breite, goldene Uhrkette spannte. Er wurde von allen Kaiserswerthern „Baas“ genannt, und er hatte es gern, wenn auch seine drei Enkelkinder ihn so anredeten. Er hatte das „Schiffchen“ von seinem Vater Gottlieb Matthias übernommen, der das 1733 erbaute Haus am Markt 9 im Jahre 1844 gekauft und in einem der Parterreräume eine Gastwirtschaft eingerichtet hatte. Schon in den Akten aus dem 18. Jahrhundert war das prächtige Gebäude nach dem Hauszeichen über der Tür „Schifgen“ genannt worden. Dieser Name wurde jetzt für die Gastwirtschaft übernommen. Außer der Schankkonzession besaß G. M. Flader auch eine zur Herstellung von Zigarren. Dieser damals in Kaiserswerth nicht unübliche Nebenerwerb war zur Zeit des Großvaters längst aus der Mode gekommen, aber der kleine Hans versteckte sich gerne in den obersten Speicherräumen und glaubte dort immer noch den Duft von Tabakblättern zu spüren.

Das Straßenstück zwischen dem früheren Rheintor am Zollhaus und dem Marktplatz wurde früher wegen seiner günstigen Geschäftslage „em joldenen Bödemke“ (im goldenen Boden) genannt. Dort gab es vor dem Ersten Weltkrieg noch eine Pumpengemeinschaft, obwohl mit der Einführung der Kanalisation im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die meisten Pumpen entfernt worden waren. Vor dem Nachbarhaus des „Schiffchen“, gleich neben der hohen Treppe, war eine übrig geblieben. Die Hausfrauen schworen auf das weiche Wasser und schleppten es für die große Wäsche eimerweise in die dampfenden Waschküchen, weil es Seife sparte. Die Zeiten, als die Windmühle auf dem Mühlenturm dem Pastor Fliedner frisches Rheinwasser in alle seine Häuser pumpte, waren da längst vorbei.

Das kleine Kaiserswerth besaß vor dem Ersten Weltkrieg fünf Bäckereien (Diakonissenanstalt und Marienkrankenhaus waren Selbstversorger), vier Metzgereien, siebzehn Lebensmittelläden, drei Schuhgeschäfte, vier Friseure und dreizehn (!!) Wirtschaften, vier mit großen Gärten. Da wundert sich der Unkundige und wittert Leichtsinn, wenn nicht gar Trunksucht. Aber die Kaiserswerther waren nicht trinkfreudiger als andere Rheinländer auch, sie bildeten halt das Zentrum für ein großes bäuerliches Umfeld.

Markttag
Einmal in der Woche war Markttag, zu dem hauptsächlich Bauern von „dröve“, von der anderen Rheinseite, mit ihren hochbeladenen Karren erschienen. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein gehörte Kaiserswerth zum linksrheinischen Kurköln, und deshalb fuhren die Bauern zwischen Neuss und Krefeld ganz selbstverständlich dorthin zum Markt - mit der Fähre über den Rhein und ohne Zoll zu zahlen, den die Bauern aus der rechtsrheinischen Umgebung hätten entrichten müssen. Diese Beziehungen haben sich lange erhalten. Während des Ersten Weltkrieges und sogar noch nach 1945 sind die Kaiserswerther „op de angere Sitt kötten“ (auf der anderen Seite des Rheins betteln) gegangen. Wobei betteln keine erschöpfende Ãœbersetzung ist, es kommt vom Kotten, der Hütte der armen Leute, und bedeutet auch: mildtätige Gaben sammeln. So gab es zum Beispiel bis weit in die fünfziger Jahre hinein bei den Kaiserswerther Franziskanerinnen eine Köttschwester, die per pedes apostolorum von Haus zu Haus zog, oft in stundenlangen Märschen, und für die Armen köttete.

Eine weitere Erklärung für die Anzahl der Kneipen liefern Burgruine und Suitbertus-Dom samt Suitbertus-Schrein und außerdem die Diakonissen-Anstalt, die Anziehungspunkte weit über die engere Umgebung hinaus bildeten. Und auch die Tatsache, daß die Verwaltung der Bürgermeisterei Kaiserswerth Stadt und Kaiserswerth Land in Personalunion im Rathaus saß, sorgte für Zustrom. Wer aus den umliegenden Dörfern „zum Amt“ mußte, kehrte anschließend ein.

Als die Ferien- und Wochenendgestaltung sich noch auf Ausflüge beschränkte, war Kaiserswerth eins der beliebtesten Ziele. Es gab sogar zwei Tanzsäle, die an Wochenenden die Tanzlustigen kaum fassen konnten, was den Dechanten des Domes dazu brachte, die „verderbliche Tanzwut“ in einer Sonntagspredigt anzuprangern. Mit diesen volkstümlichen Vergnügungen konnte und wollte das „Schiffchen“ nie konkurrieren. Es hatte nur den einen Gastraum rechts neben der Türe (links lagen Wohnraum und Küche), in dem sich die Honoratioren von Kaiserswerth abends trafen, um in Ruhe einen Schoppen Wein oder einen Krug Bier (oder auch mehrere) zu trinken. Natürlich gab es auch Bier zum Verkauf über die Gasse. Deshalb befand sich in der Wand hinter der Theke ein Schiebefenster mit Butzenscheiben, durch das die Durstigen ihre mitgebrachten Flaschen und Krüge reichen konnten, ohne die Gäste zu stören.

An der Rückwand des Gastraumes stand ein deckenhoher, dunkelgrün glasierter Kachelofen. Der Stammtisch daneben war umgeben von geflochtenen Binsenstühlen, wie sie auch um die anderen Tische standen, und einem Ledersofa mit geschwungener Lehne. Hier war man unter sich, und auch temporäre Kaiserswerther wurden schnell zu Stammgästen, besonders die Künstler. Denn nicht nur für Ausflügler war Kaiserswerth ein beliebtes Ziel, sondern auch für die Maler der berühmten Düsseldorfer Kunstakademie, die fast alle noch auf Ruhm und Verdienst warteten. „Kenger, doht de Botterram weg, do kütt ne Möler!“ war die Warnung einer Kaiserswerther Mutter, die sich zu einem geflügelten Wort auswuchs - das allerdings Christine Stöcker, der Tochter von Karl Flader, nie über die Lippen gekommen ist. Sie stellte den jungen Künstlern die größte Wand im Gastraum zur Verfügung, die dort in einem deckenhohen, mehrere Meter breiten Fresko Szenen aus der Kaiserswerther Geschichte verewigten oder besser karrikierten. Der Maler Fritz Feigler war schon so arriviert, daß er sich eine Sommerwohnung in der Mühlengasse (heute: Am Mühlenturm) leisten konnte. Im ersten Hinterhaus wohnte „dat Dohmens Sting“ (Christine Dohmen). Sie besserte ihre karge Rente durch Kälken der Hofgiebel auf. „Kälke kann jede domme Jong, äwwer de Brüh make, dat es de Kunst“, hieß ihr Werbespruch. Mit ihrer kurzen Meerschaumpfeife und einem grauen Knoten aus strähnigem Haar war Dohmens Sting eine typisch niederrheinische Alte. „Ich möchte Sie einmal malen“, bat Fritz Feigler seine Nachbarin. „Mech mole?“ seufzte dat Sting. „Ech mott et mech öwerläje.“ Und nach ein paar Tagen: „Ehr könnt mech mole. Äwwer nit puddelich näck.“

Barock zum Schrottpreis
Ein Maler war es auch, der das „Schiffchen“ zu einem der beliebtesten Fotoobjekte von Düsseldorf machte: Carl Gustav Krause. Da war Hans Stöcker schon Student der Geschichte und Zeitungswissenschaft in Köln und verdiente sich sein Studium als Reporter bei der Aachener Volkszeitung, später beim Duisburger Generalanzeiger, was sich bald zum Hauptberuf auswuchs und das Studium fast zum Erliegen gebracht hätte. Bei den Terminen ergab sich oft die Gelegenheit, seiner großen Leidenschaft zu frönen: Antiquitäten. „Alten Prött“ nannte die Mutter die Spiegel, Bilder, Truhen, Vitrinen, Schränke, Tische, die er nach Hause schleppte und im „Schiffchen“ verteilte. Eines Tages entdeckte er im Schutt eines abgerissenen Aachener Barockhauses einen kunstvoll geschmiedeten Arm und durfte ihn für etwas mehr als den Materialpreis mitnehmen, nachdem er einen Schrotthändler überboten hatte.

„Das Ding kommt mir nicht an die Fassade!“, erklärte Mutter Christine. „Häng’ es am Hinterhaus auf, da sieht es niemand.“ Erst den vereinten Kräften des Stammtisches gelang es, sie umzustimmen. Den Ausschlag gab Freund Carl Gustav Krause, genannt Strunzi, Kunstmaler mit akademischen Ehren. Er entwarf ein Schiff mit geblähten Segeln, das stolz über die Wellen fährt, natürlich die des Rheines. Strunzi kannte auch einen Schmied, der fähig war, das Kunstwerk in Eisen nachzuformen und in einen eisernen Ring zu setzen. Von zwei Ketten gehalten schwebte es von dem barocken Eisenarm und sah aus, als ob es seit 1733 dort gehangen hätte. Das glaubten und glauben jedenfalls die zahllosen Fotografen, die es seitdem für Postkarten, Kunstbücher, Stadtführer oder fürs eigene Album abgelichtet haben.

Hans Stöcker hatte schon als junger Mann mit viel Sachverstand begonnen, das Haus zu restaurieren. Ende der dreißiger Jahre wurde der weiße Verputz abgeschlagen, so daß das alte Mauerwerk und die steinerne Türumrahmung wieder zum Vorschein kamen. Als im letzten Kriegsjahr Granatsplitter vom Dach bis in den Keller durchschlugen, restaurierte das bekannte Architekturbüro Hentrich/Heuser (später Hentrich/Petschnigg) die Schäden und stellte auch die Kölner Decken mit ihren charakteristischen ovalen Vertiefungen wieder her. In den fünfziger Jahren wurden im Gastraum neben der Türe Teile eines Schiffsrumpfes eingebaut, mit Bullaugen, Steuerrad und gebauchtem Heck. Das brachte die Bourgeuils 1987, als sie den ersten Stock im französischen Stil umbauen ließen und das Restaurant „Schiffchen“ dorthin verlegten, auf die Idee, das neue Restaurant unten „Aalschokker“ zu nennen, nach den dickbauchigen Schiffen, die im vergangenen Jahrhundert an allen Rheinbiegungen lagen und Aale fischten, vor dem ersten Weltkrieg bis zu 60 Zentner jährlich pro Schiff. Der „Aalschokker“ hatte sich der traditionellen deutschen Küche verschrieben. Allerdings wäre Gottlieb Matthias Flader wohl kaum auf den Gedanken gekommen, die dort servierten Gerichte mit seiner „gutbürgerlichen Küche“ zu vergleichen.

Selbst hergestellte Speisekarten
Als Jean-Claude und Jeannine Bourgeuil das „Schiffchen“ 1977 übernahmen, ahnte niemand in Kaiserswerth den künftigen Glanz. Für insgesamt 400 Mark erstand der Sternekoch vier übliche Küchenherde, die später durch den gußeisernen Molteni-Herd ersetzt wurden - ein Begriff für jeden Kochbegeisterten. Jeannine stellte damals alle Desserts her und bestückte damit den Restaurantwagen. Eine Spülfrau übernahm das Putzen von Salaten und Gemüsen, und der einzige Kellner, Bernhard Matzky, war auch für das Polieren des bißchen Silbers und vielen Messings und Kupfers zuständig.

Die anfangs noch raren Gäste vermehrten sich peu à peu (auch dank Hans Stöcker, der bei seinen Führungen durch Kaiserswerth seine Zuhörer in „das schönste Haus Düsseldorfs“ lockte), so daß 1978 der erste Lehrling eingestellt wurde. Der Rotwein kam zu dieser Zeit noch aus dem Faß und aus Geldmangel wurden die Speisekarten mit Chromolux-Papier und Letraset selbst hergestellt. Schon 1979 gab es den ersten Michelin-Stern, 1983 den zweiten, 1987 den dritten, nach dem sich alle Spitzenköche Europas die Finger lecken. Sogar der „Aalschocker“, der „nur“ deutsche Küche brachte, errang einen Stern.

Auch wenn es manchmal eine Belastung ist, daß jeder Tourist einmal einen Blick in das „Schiffchen“ werfen will, ist der Meisterkoch doch stolz darauf, daß seine Kunst Kaiserswerth erneut weltberühmt gemacht hat. Immer noch wundert er sich manchmal, daß täglich Reservierungsfaxe aus aller Herren Länder eingehen. Und er erinnert sich lächelnd, wie beeindruckt sein Vermieter von diesem Ruhm war. Als er einmal während eines Auslandaufenthaltes nach seinem Wohnort gefragt wurde und Wittlaer nannte, sagte das seinen Gesprächspartner gar nichts. Als er deshalb erklärte, dieser Ort liege neben Kaiserswerth, kam wie aus der Pistole geschossen: „Ach, da wo das ‘Schiffchen’ ist?“, worauf er voller Stolz erwiderte: „Ja, und das ist mein Haus!“

Längst gehört Jean-Claude zum Leben in Kaiserswerth, als ob er dort geboren wäre. Er selbst empfindet es auch so. Zwar fährt er immer noch gerne an die Loire, aber die Rückkehr nach Kaiserswerth bedeutet für ihn nach Hause zu kommen. Das Gefühl, das er gleich beim ersten Besuch hatte, hat nicht getrogen. In der Nacht, wenn der letzte Gast gegangen ist, setzt er sich oft auf eine Bank am Ufer nahe der Anlegestelle. „Die Rheinluft hat es in sich, und oft zieht es ziemlich, aber ich genieße diese Atmosphäre. Der Himmel ist noch etwas gefärbt, die Geräusche des Wassers und der Dunkelheit wirken entspannend und bringen manchmal sogar neue Ideen.“

Eigentlich hat er sein Leben lang davon geträumt, sich ein Segelschiff zu kaufen, aber nie Zeit dazu gefunden. Immerhin hat er jetzt 25 Jahre auf einem „Schiffchen“ verbracht, das einem Segelboot eines voraus hat: Ãœber seinem Kiel lagern 18.000 Flaschen Wein.

Christa-Maria Zimmermann