Heimat-Jahrbuch 2004

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Pastor Franz Vaaßen und die "Kerzianer"
Im Kerzenkreis sammelten sich Freunde und Förderer der modernen Kunst und Gegner des Dritten Reiches
Von Herbert Jacobs

Haus Meer bei BĂŒderich in der Stadt Meerbusch hat eine lange ehrwĂŒrdige Tradition. Von 1166 bis 1802, gegrĂŒndet durch die selige Hildegundis, von Liedberg stammend und mit dem Grafen Lothar von Ahre verheiratet, war es ein PrĂ€monstratenserinnen-Kloster, genauer ein adeliges Damenstift nach dieser Ordensregel. Nach der SĂ€kularisation bis zu einem Totalbrand durch Brandbomben 1943 im 2. Weltkrieg lag inmitten des von Joseph Clemens Weyhe 1865 geschaffenen prĂ€chtigen Parks mit LusthĂ€uschen (Pavillon), Eiskeller und Pleasure Ground das Schloss der Familie von der Leyen, der ehemaligen Samt- und Seiden-Barone aus Krefeld.

1962 verkaufte Witwe Huberta von der Leyen den Park an den Gesamtverband der Evangelischen Kirchengemeinden in DĂŒsseldorf zur Errichtung der Evangelischen Stadtakademie, die jedoch ihr Domizil in der Altstadt von DĂŒsseldorf nahm. Durch dessen WeiterverĂ€ußerung des Areals 1978, nachdem sich die BauplĂ€ne fĂŒr ein gemeinnĂŒtziges Altenheim oder ein privatwirtschaftliches Seniorenstift zerschlagen hatten, an einen Privatinvestor geriet Haus Meer ĂŒber eine Anzahl von BautrĂ€gern zu einem Spekulationsobjekt, das mit denkmalswerten Bau- und Bodenrelikten dem zunehmenden Verfall preisgegeben ist.

Heute setzen sich vor allem an Tradition und Kultur interessierte BĂŒrger der Stadt Meerbusch dafĂŒr ein, dass die denkmalgeschĂŒtzten Bau- und Bodenrelikte, die noch Remisen mit einem frĂŒhbarocken Giebel bzw. die Fundamente der romanischen Kirche und des Kreuzganges umfassen, sowie der in großen Teilen erhaltene, wenn auch verwilderte Weyhe-Park wiederhergestellt werden. Das kostbare, geschichtstrĂ€chtige und fĂŒr die Stadt symbolhafte Areal soll zu einem kulturellen Stadtmittelpunkt ausgebaut werden. Er soll Meerbusch als 1970 aus einzelnen selbstĂ€ndigen Gemeinden neugegliederten Stadt Identifikation und Eigenprofil geben.

Unter den vielen befĂŒrwortenden Stimmen fĂŒr eine solche Wiedergeburt des Hauses Meer setzte sich auch Sonja MatarĂ©, die in BĂŒderich in dem Atelier und Wohnhaus ihres Vaters Ewald MatarĂ© lebende Tochter, ein. Sie schrieb unter dem 12. MĂ€rz 2000 dem inzwischen verstorbenen KĂŒnstler Helmut Martin-Myren, der sich wie kaum ein anderer, auch mit kĂŒnstlerischen Aktionen, fĂŒr Haus Meer eingesetzt hatte: „Zu dem Projekt ‚Haus Meer‘ möchte ich Ihnen gerne ein paar Anregungen geben, denn aus persönlichen GrĂŒnden freue ich mich, dass Sie sich der Sache annehmen. Wenn die Geschichte des Hauses Meer vollstĂ€ndig geschrieben wird, dann sollte doch vielleicht auch erwĂ€hnt werden, wer in den letzten Jahren seines Bestandes dort im Schloss gewohnt hat. Den gesamten SchlossflĂŒgel, also beide Etagen, bewohnte ab 1930 bis zur Zerstörung der Kunstschriftsteller und Feuilletonredakteur Wernher Witthaus mit Frau und Töchterchen. Das bedeutete, dass eine ganze Reihe namhafter KĂŒnstler, mit denen er befreundet war, dort verkehrten. So zum Beispiel der Maler Heinrich Nauen, der Bildhauer Ewald MatarĂ©, der Glasmaler Jan Thorn-Prikker sowie Heinrich Campendonk, diese beiden bis zu ihrer Emigration nach Holland. Dazu kamen Sammler und der Pfarrer Vaaßen aus Wittlaer, der seine kleine romanische Kirche von den verfemten KĂŒnstlern ausstatten ließ. Sie alle holten sich neue KrĂ€fte in der Schönheit des Ensembles von Schloss und Park und der gemeinsamen Ablehnung des Nationalsozialismus, ĂŒber den sie dort ungefĂ€hrdet diskutieren konnten. Dies ist auch ein wichtiger Teil der wechselvollen Geschichte des ‚Kloster Meer‘“.

Dieser Kreis bekannter Persönlichkeiten der bildenden Kunst, ihrer Sammlung, Geschichte und Kritik, der klassischen Moderne in unserem rheinischen Raum wird in „Ewald MatarĂ© – TagebĂŒcher 1915-1965“ mehrfach erwĂ€hnt, sei es als Ganzes, seien es die einzelnen Mitglieder. Unter dem 8. Oktober 1944 notiert er: „Am 2. Oktober ist Pastor Vaaßen gestorben. ... Es ist der Dritte aus dem Kreis der ‚Kerzianer‘, die nun von der hiesigen Welt abgetreten sind - Nauen machte den Anfang, dann kam Mitscherlich und nun Pastor Vaaßen“. Die Herausgeber merken dazu an: „Kerzianer: Der Kreis von elf Freunden traf sich in den dreißiger Jahren zu privaten GesprĂ€chen bei ‚Kerzenschein‘ in einem BĂŒdericher Wirtshaus. Dazu gehörten die Ehepaare MatarĂ©, Mitscherlich, Nauen, Steinert, Witthaus und Pastor Franz Vaaßen. Als man auf die politischen Äußerungen, wie sie 1932/33 durchaus ĂŒblich waren, aufmerksam wurde, verlegten sie ihre Diskussionen in private Umgebungen“. Das „BĂŒdericher Wirtshaus“ war das kleine Bahnhofs-Restaurant an der Haltestelle der Krefeld-DĂŒsseldorfer Straßenbahn, „K-Bahn“ genannt, in BĂŒderich, dem Hotel/Restaurant Landsknecht gegenĂŒber, heute die Kastanie“.

Was dieser Zusammenhalt von Freunden in schwerer Zeit bedeutete, die schon 1933 kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung neben z.B. Paul Klee, Heinrich Campendonk, Heinrich Nauen, auch Ewald MatarĂ© insofern besonders hart traf, als sie alle kurz nacheinander ihre Professuren an der DĂŒsseldorfer Kunstakademie verloren – dieser gerade 1 Jahr nach seiner Übersiedlung mit seiner Familie nach BĂŒderich und 7 Monate nach seiner Berufung – beschreibt Sabine Maja Schilling in ihren ErlĂ€uterungen „Die TagebĂŒcher von Ewald MatarĂ©â€œ so: „... zieht er sich in eine ‚innere Emigration‘ zurĂŒck. Doch selbst in dieser erstickenden AtmosphĂ€re ergeben sich neue Beziehungen, die dazu beitragen, die finanzielle Notlage mit Hilfe der Kirche und von Freunden zu ĂŒberbrĂŒcken. Die ‚Kerzianer‘, ein Kreis von elf Freunden, bemĂŒhen sich, MatarĂ© mit kleinen AuftrĂ€gen aus den eigenen Reihen zu unterstĂŒtzen. Der Name ‚Kerzianer‘ bezieht sich auf die GesprĂ€chsrunden bei ‚Kerzenschein‘, zu denen sich die Ehepaare MatarĂ©, Mitscherlich, Nauen, Steinert, Witthaus und Pastor Franz Vaaßen regelmĂ€ĂŸig einfinden. Man trifft sich in einem BĂŒdericher Wirtshaus zu GesprĂ€chen, in denen natĂŒrlich auch politische MeinungsĂ€ußerungen fallen. Als die Runde dadurch Aufmerksamkeit erregt, zieht sie sich in die private SphĂ€re zurĂŒck.“ Zu dieser gehört auch Schloss Meer, wo von 1933 bis 1943 Wernher und Ilse Witthaus mit ihrem Töchterchen Monika wohnen und freundliche Gastgeber sind.

Dass Schloss Meer immer schon eine großartige landschaftliche Ausstrahlung besaß und idyllisch auf die Menschen wirkte, beschreibt Ludwig Mathar, der auf einem Dampfer der „Köln-DĂŒsseldorfer Gesellschaft“ eine Rheinfahrt von DĂŒsseldorf den Niederrhein hinunter in den 20er Jahren unternahm, gefĂŒhlvoll: „Da drĂŒben im Pappelheim, leuchtendes Weiß der TĂŒnche, behagliche Ruhe des Satteldaches, Mönchenwerth, das ist der erste Gruß vom stillen trĂ€umenden Niederrhein. Kloster Meers barockes TurmhĂ€ubchen ĂŒber duftendem LindengrĂŒn – o gute selige Zeit des Krummstabs, unter dem nach einem dreißigjĂ€hrigen Kriege doppelt friedlich wohnen war!“10 Schilderungen von Ilse Witthaus zu dem Freundeskreis hat aus langen ErzĂ€hlungen ihr Arzt und zugleich Biograph 1999 zu ihrem 100. Geburtstag unter der Überschrift „Die Kerzianer“ aufgezeichnet.11 Danach bildete das Aufkommen und die Machtergreifung des Nationalsozialismus in den Jahren 1930-1933 fĂŒr den Kreis von Freunden um Ewald MatarĂ© den gesellschaftlich-geschichtlichen Hintergrund fĂŒr eine engere Bindung. „Der Freundeskreis nannte sich die ‚Kerzianer‘. Der Name war klug gewĂ€hlt von dem Wort ‚Kerze‘, daher völlig unpolitisch. ihre regelmĂ€ĂŸigen ZusammenkĂŒnfte an jedem 4. des Monats fanden stets im Schein von Kerzenlicht statt. ZunĂ€chst trafen sie sich in einem Gastraum des alten BĂŒdericher Bahnhofs. Dabei wurde freimĂŒtig Kritik am Naziregime geĂŒbt, aber auch zĂŒgig dem Mosel- und Rheinwein zugesprochen. Am Ende erklang immer das Lied: ‚Die Gedanken sind frei ...‘. Der Gesang verriet jedem, der draußen zuhörte, dass hier Regimegegner ihre Ablehnung zum Ausdruck brachten. Das war eine gefĂ€hrliche Mischung: Diskussion, Wein und dieses Lied. Denunzianten horchten damals schon ĂŒberall fleißig mit. Inzwischen hĂ€tte den Nazispitzeln der Name ‚Kerzianer‘ wegen der Harmlosigkeit der Bezeichnung bereits verdĂ€chtig erscheinen mĂŒssen.

Der Kreis der Mutigen umfasste: das Ehepaar Wernher und Ilse Witthaus, den Bildhauer und Maler Ewald MatarĂ© und seine Frau Hanna aus BĂŒderich, das Ehepaar Mitscherlich aus Krefeld, den Pastor Vaaßen von der Pfarre St. Remigius in Wittlaer, das Malerehepaar Heinrich und Marie Nauen aus Neuss und das Ehepaar Fritz und Ilse Steinert, Inhaber einer Weberei in Krefeld. Gerade noch rechtzeitig, wegen der Gefahr, verraten zu werden, kamen die Kerzianer ĂŒberein, sich kĂŒnftig reihum an jedem 4. des Monats privat zu treffen. Jetzt, da von nun ab kein Horcher mehr an der Wand stand, ging es mit anregenden GetrĂ€nken immer sehr munter zu. Die Witthaus hatten viel Platz zum Feiern in ihrer Wohnung in Haus Meer. Der Refektoriumsaal des Klosters „in der Meer“, das diesen Trakt der SchlossgebĂ€ude einstmals inne gehabt hatte, bildete einen Teil ihrer Wohnung. Zu dem Arbeitszimmer gehörte ein alter langer Tisch. Der wurde in die Raummitte gerĂŒckt. Beim Singen des Liedes von der Gedankenfreiheit tauchte Monika aus ihrem nebenan gelegenen Schlafzimmer auf und fragte gĂ€hnend: ‚Wann seid ihr endlich mal ruhig?“

Weiter im Buch S. 67