Heimat-Jahrbuch 2004

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Römisches Schiff vor Gellep gekapert
Germanen brachten im Jahre 69 n. Chr. ein römisches Getreideschiff in ihre Gewalt
Von Christoph Reichmann

Der römische Schriftsteller Tacitus berichtet im vierten Buch seiner Historien ausführlicher über den Aufstand der germanischen Bataver am Niederrhein. Ein batavischer Fürst mit dem römischen Namen Julius Civilis nutzte den in Rom nach der Ermordung Neros (68 n. Chr.) ausgebrochenen Bürgerkrieg zu einem Aufstand gegen die römische Herrschaft. Er verfügte dabei über mehrere aus dem Batavergebiet, hauptsächlich dem niederländischen Flussgebiet zwischen Nijmegen und s’Hertogenbosch rekrutierte römische Kohorten sowie über zahlreiche Kontingente rechtsrheinischer Stämme, worunter die an oberer Lippe und Ruhr wohnenden Brukterer besonders herausragten. Aber auch die am rechten Niederrhein angesiedelten Usipeter und Tenkterer sowie die Cugerner, die Bewohner des Umlandes von Xanten hatten sich dem Aufstand angeschlossen. Allein die Ubier, die Bewohner der Kölner Civitas, zu der als äußerster Vorort im Norden die damals noch kleine Hafensiedlung Gelduba (Krefeld-Gellep) gehörte, hielten den Römern in Niedergermanien die Treue.

Als Civilis sich anschickte, die größte, aber in Folge des Bürgerkrieges stark unterbelegte römische Festung am Niederrhein Castra Vetera auf dem Fürstenberg bei Xanten zu belagern, marschierte ein eilig in Obergermanien aufgestelltes Entsatzheer nach Norden. Unmittelbar vor der Grenze des Aufstandsgebietes, dicht bei dem Orte Gelduba („loco Gelduba nomen est“, Hist. 4, 26,3), machte das Heer zunächst Halt und errichtete ein größeres Lager. Während ein Teil unter dem Befehl des Herennius Gallus im Lager zurückblieb und Schanzübungen vornahm, rückte ein anderer unter Führung des Oberbefehlshabers Gaius Dillius Vocula ins nahe Cugernergebiet vor, um Dörfer der Aufständischen niederzubrennen und Höfe zu plündern.

Während der Abwesenheit Voculas ereignete sich ein dramatischer Zwischenfall vor dem Lager bei Gelduba. Hier zunächst der Bericht des Tacitus: „Zufällig zogen die Germanen ein mit Getreide schwer beladenes Schiff, das nicht weit vom Lager auf eine Untiefe aufgelaufen war, an ihr Ufer. Gallus ließ sich das nicht gefallen und schickte eine Kohorte zu Hilfe: Als auch die Zahl der Germanen wuchs und Hilfstruppen sich ihnen allmählich näherten, kam es zu einer Schlacht (acie certatum). Die Germanen rissen das Schiff unter großen Verlusten unserer Leute weg (Hist. 4, 27, 1)“. Bei den Römern hatte das Desaster noch ein Nachspiel: „Die Besiegten gaben, was damals zur Gewohnheit geworden war, nicht ihrer eigenen Trägheit, sondern der Treulosigkeit des Legaten ( Gallus) die Schuld. Sie zerrten ihn aus dem Zelt, zerrissen sein Gewand, peitschten ihn aus und befahlen ihm zu sagen, um welchen Preis und mit welchen Mitwissern er das Heer verraten habe (Hist. 4, 27, 2)“. Der heimkehrende Vocula konnte Gallus schließlich noch lebend aus seiner misslichen Lage befreien. Er griff aber streng durch und ließ die Rädelsführer der Revolte hinrichten. Der Vorfall zeigt sehr deutlich, daß es damals um die Disziplin der Truppe nicht zum besten bestellt war. Dementsprechend wäre auch der spätere Großangriff der Truppen des Civilis auf das Lager von Gelduba (die berühmte Bataverschlacht) für die Römer fast zur vollständigen Katastrophe geraten. Nur der Lärm einer zufällig von Neuss anrückenden Verstärkung rettete die Lage im allerletzten Moment.

Tacitus war selbst kein Augenzeuge der Ereignisse, sondern gibt hier nur in kurzen Worten den Inhalt eines ihm vorliegenden längeren Berichtes wieder. Was war passiert? Ein mit Getreide schwer beladenes Schiff lief auf eine Sandbank. Wegen des trockenen Sommers im Jahre 69 führte der Rhein offenbar auch im Oktober nur relativ wenig Wasser. Hinzu kam, daß der Rhein - anders als heute - keine tief erodierte Fahrrinne besaß, sondern mit wesentlich langsamerer Fließgeschwindigkeit in weit geschwungenen Mäandern und in einem durch zahlreiche Nebenarme und Inseln zergliederten Bett zu Tal floß. Noch im 19. Jahrhundert gab es bei Düsseldorf Furten, die in trockenen Sommern zu Fuß überwunden werden konnten. Der Flusshafen von Gelduba lag damals dicht oberhalb des Mühlenbaches an einem Nebenarm des Rheins, der im Nahbereich anscheinend durch mindestens drei Inseln vom Hauptstrom getrennt war. Das römische Feldlager schloß sich unmittelbar südlich an, wie zahlreiche Schanzgräben anzeigen, die in den vergangenen Jahren hier ausgegraben wurden.

Nun sagt Tacitus nicht, in welcher Richtung das Getreideschiff unterwegs war oder welcher Zielort angesteuert wurde. Die militärische Lage spricht gegen eines der üblichen Getreideschiffe aus Britannien, denn in diesem Falle wäre das Schiff sicherlich schon weit vor Gelduba, spätestens in Höhe von Xanten, von den Aufständischen abgefangen worden, so daß eigentlich nur die umgekehrte Richtung in Betracht kommt. Zu denken wäre damit an ein Versorgungsschiff für das in Gelduba lagernde Heer. Unterhalb Geldubas waren offenbar – abgesehen vom belagerten Castra Vetera - alle Garnisonen in der Hand des Gegners oder aber verlassen. Unklar ist die Situation nur in Asciburgium (Moers-Asberg), dem nächstgelegenen Kastell auf cugernischem Boden, da Tacitus wenig später von einer handstreichartigen Einnahme durch die Bataver berichtet („rapiunt in transitu hiberna alae Asciburgii sita“, Hist. 4, 33,1). Gleichsam im „Vorübergehen“ wurde das Winterlager der Reitertruppe eingenommen. Möglicherweise gab es hier demnach noch eine kleine Lagerwache; denn bei Anwesenheit der vollständigen Reitertruppen (Ala) wäre ein solcher Handstreich wohl kaum möglich gewesen. Vielleicht war das Lager aber auch schon geräumt und zu diesem Zeitpunkt nur noch nicht von Aufständischen besetzt. Falls sich jedoch bis dahin römische Soldaten in Asciburgium aufgehalten haben sollten, so könnte das Getreide für die dortige Restbesatzung bestimmt gewesen sein. Sehr wahrscheinlich ist dies jedoch nicht, denn die wichtigsten Versorgungsanstrengungen mussten in der gegebenen Lage zweifellos dem ungleich viel größeren Feldheer in Gelduba gelten.

Wenn das Schiff den Flusshafen von Gelduba anlaufen wollte, dann gab es theoretisch mehrere Möglichkeiten: Die erste wäre eine direkte Einfahrt von Süden in den Gelleper Hafenarm, die zweite eine Durchfahrt bei der mittleren Insel und die dritte eine Einfahrt von Norden. Der Weg von Norden war der längste, allerdings hatte er den Vorzug der größten Wassertiefe und dies könnte bei Niedrigwasser von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sein. Zwar kennen wir die tatsächlichen Wassertiefen der damaligen Zeit nicht, doch ergibt sich aus dem natürlichen Strömungsverhalten des Flusses eine relative Abfolge. Die Wahrscheinlichkeit spricht für eine höhere Aufsandung bei den stromauf gelegenen direkten Zuflüssen und dementsprechend eine größere Wassertiefe beim Abfluß. Verstärkt wurde dieser Effekt sicherlich noch durch das Hinzutreten des Mühlenbachwassers unterhalb des Hafens. Nachweislich setzte später, während des frühen Mittelalters, die endgültige Versandung des Gelleper Hafenarmes auch im Süden zuerst ein.

So gesehen spricht einiges dafür, daß das Getreideschiff, solange es eben ging, den Hauptarm des Flusses nutzte, um dann von Norden her in den Hafenarm einzufahren. Schließlich ist es auch unwahrscheinlich, daß die germanischen Beobachter auf den Rheininseln saßen, denn dann hätten sie sich - die Hauptstromrinne im Rücken – sehr nahe und ungeschützt am römischen Lager befunden. Auch wäre es bei einer Strandung unmittelbar vor dem Lager wahrscheinlich nicht zu einem germanischen Angriff gekommen. Am Hauptstrom jedoch sowie auch an der nördlichen Hafeneinfahrt waren die Erfolgsaussichten der germanischen Seite weit günstiger.

Hinzu kam, daß die Niederrheiner und unter ihnen vor allem die Bataver nach Auskunft der Römer sehr gute Schwimmer waren. Anscheinend bildete intensives Schwimmtraining hier einen festen Bestandteil der Mannbarkeitsriten, denn wie sonst sollte man es sich erklären, daß nicht nur einzelne gute Schwimmer auftraten, sondern große Gruppen. Spektakulär war z. B. der Einsatz der batavischen Kohorten zu Beginn des Bürgerkrieges während einer Schlacht am Po in Oberitalien. „Der Po selbst stachelte die Bataver und rechtsrheinischen Germanen an...“, wie Tacitus schreibt (Hist. 2, 17, 2 u. 35). Zunächst überrumpelten sie die Wachen des Gegners vollständig, weil sie im geschlossenen Verband durch den Strom schwammen. Dann griffen sie während der eigentlichen Schlacht die mit Bewaffneten besetzten Boote an, enterten sie oder „versenkten sie mit ihren Händen“. Ähnliches weiß auch Ammianus Marcellinus später noch vom Perserfeldzug Julians zu berichten. Auch hier schwammen die Bataver, 500 Mann stark, bei Nacht mit allen Waffen durch den Euphrat und überwältigten die persischen Wachen, ohne, wie der Feldzugsteilnehmer Ammianus mit Erstaunen feststellt, daß auch nur ein einziger Mann dabei ertrunken wäre. Man darf wohl vermuten, daß diese speziellen Fähigkeiten den niederrheinischen Germanen auch im Falle des Kampfes um das Getreideschiff bei Gelduba zu Gute gekommen sind.

Schließlich gibt es noch einen konkreten archäologischen Hinweis auf eine Kampfhandlung in Gellep, die zeitlich nach dem Eintreffen des Heeres, aber vor der ebenfalls bei Tacitus beschriebenen großen Schlacht stattgefunden haben muß. Auf den ersten Blick fügt sie sich allerdings nicht ganz zum Bericht des Tacitus, denn es handelt sich um die vollständige Zerstörung des alten Hafenortes. Dass der Ort bei Eintreffen des Heeres noch bestand, scheint sich nicht nur aus der Form der Ortsnennung in den Historien zu ergeben, sondern auch aus dem Umstand, daß die erste Phase der Feldlagergräben noch vor dem Ort endet und damit die Ortslage respektiert, während das zweite Feldlager – hier handelt es sich den Funden nach, um das Lager, das dann im November 69 von den Batavern angegriffen wurde – sich mit einer Befestigungslinie quer durch den Ort zieht. Darauf, daß die Zerstörung mit Gewalt vor sich ging, deutet unter anderem der Fund von menschlichen Skeletteilen und Waffen in einem der Brunnen. Demnach spricht einiges zumindest für Gleichzeitigkeit mit den Kämpfen um das gestrandete Getreideschiff vor dem Hafen.

Wenn dies tatsächlich so war, dann bedeutet dies, daß der Kampf um das Getreideschiff doch größere Ausmaße gehabt hat, als man dem Bericht des Tacitus zunächst entnehmen konnte. Wenn der Kampf um das Schiff auch wahrscheinlich in einiger Entfernung vom römischen Lager entbrannte, so scheint er sich doch mit Eintreffen der Verstärkungen gewaltig ausgeweitet und schließlich von Norden her auf das römische Lager zubewegt zu haben. Schließlich wurde die gesamte, auf der Flussseite wohl nur mangelhaft befestigte Hafensiedlung niedergebrannt. Schließlich war nicht nur das Getreideschiff verloren, sondern man hatte auch das Schlachtfeld räumen und sich sogar hinter die schützenden Wälle und Gräben des Lagers zurückziehen müssen. Die Schmach war nach dieser Rekonstruktion der Ereignisse für die Römer sehr groß, so daß die Revolte gegen den zögerlichen Kommandanten Herennius Gallus für uns vielleicht um einiges verständlicher wird.

Allerdings ist nicht vollständig gesichert, daß sich alles tatsächlich so abgespielt hat. So befindet sich im überlieferten Text des Tacitus eine Lücke vor der Nennung des Ortsnamens (loco Gelduba: Hist. 4, 26, 3). Gewöhnlich wird vermutet, daß hier eine Entfernungsangabe gestanden hat, wie „am 13 Meilensteine hinter Novaesium“ u.ä., doch könnte dort theoretisch auch vermerkt gewesen sein, daß der Ort bereits niedergebrannt war. Zwar wird sonst nirgendwo von früheren Kampfhandlungen in der Umgebung des Ortes berichtet, doch ist dies nicht unbedingt ein Gegenbeweis. Der archäologische Befund zeigt zudem, daß der Ort vermutlich zu Beginn des Aufstandes auf der Landseite mit einem Graben befestigt worden ist, man sich folglich in Gelduba bedroht fühlte. Dass die Befestigung nicht lange bestand, zeigt die Grabenfüllung. Da zudem ein Teil des zugehörigen Gräberfeldes zerstört wurde, reagierte man offenbar mit der Sicherung auf aktuelle Ereignisse. Gegen eine frühere, schon vor Eintreffen des Entsatzheeres eingetretene Zerstörung des Ortes spricht allerdings der Umstand, daß die älteste Feldlagerphase die alte Ortslage noch respektiert. Aber auch hier ist die exakte Datierung nicht vollständig gesichert. So läßt sich zumindest vom archäologischen Standpunkt nicht sicher ausschließen, daß die erste Lagerphase bereits zu einem früheren Zeitpunkt (im Frühjahr oder im Sommer des Jahres 69) angelegt wurde, etwa von den sich im Verlaufe des Bürgerkrieges zum Niederrhein hin absetzenden batavischen Kohorten, auch wenn die Errichtung eines festen Feldlagers ausgerechnet in Gelduba, also kurz vor Erreichen des befreundeten Gebietes nicht eben wahrscheinlich ist.