Heimat-Jahrbuch 2005

« zurück
Selbstloses Eintreten für Menschenwürde und Menschlichkeit
Der Kaiserswerther Heinrich Küchler rettete vor 60 Jahren eine Familie vor der Deportation
Von Bruno Bauer

Heinrich Küchler galt bei seinen Nachbarn auf der Arnheimer Straße in Kaiserswerth als bescheiden und zurückgezogen, ja sogar als verschlossen. Aber vielleicht waren gerade diese Eigenschaften eine wichtige Voraussetzung dafür, dass er in den letzten Monaten des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs zum Retter einer Familie wurde, deren Existenz durch die Schergen des Nationalsozialismus in höchste Gefahr geraten war.

Der am 31. Dezember 1888 in Frankfurt am Main geborene Heinrich Küchler trat 1926 als Gartenarchitekt in den Dienst der Stadt Düsseldorf. Nach der „Machtergreifung“ 1933 wurden die städtischen Bediensteten auf „Linientreue“ gebracht. Heinrich Küchler war damals Leiter des Gartenamtes in einem kündbaren Angestelltenverhältnis und hatte eine Familie mit 2 Kindern zu versorgen. Unter massivem Druck und deutlichen Drohungen einer SS-Abordnung trat er in die NSDAP ein. Doch seine Mitgliedschaft sollte pro forma bleiben. Aus seiner antinazistischen Haltung machte Heinrich Küchler im Familien- und Freundeskreis keinen Hehl. Von jeder Art aktiver Mitgliedschaft nahm er Abstand. Dies galt auch für seine Frau Clara, die sich von Frauenschaft und NSV fernhielt, wie auch für seine beiden Söhne Edmund und Gerhard, die sich nur unter Druck der Hitlerjugend anschlossen. Der jüngere Sohn Gerhard wurde sogar öffentlich vor der Klasse im Hindenburg-Gymnasium als unwürdig aus der Hitlerjugend ausgestoßen.

Befreundet war die Familie Küchler mit der in Köln lebenden Familie Meyer. Die Männer hatten sich über den Beruf kennen und schätzen gelernt. Die sich daraus entwickelnde Freundschaft hielt ein Leben lang. Häufig besuchten sich die Familien, mal in Kaiserswerth, mal in Köln-Lindenthal. Der aus Hamburg stammende Hans Meyer studierte Gartenbau in Berlin-Dahlem. Der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (1917-1933) hatte große Pläne zum Ausbau der Stadt zur Metropole. In der wirtschaftlich schwierigen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg brachte Adenauer viele Menschen in Arbeit und Brot. Für die Anlegung des von ihm konzipierten Kölner Grüngürtels benötigte er einen tüchtigen Gartenarchitekten, den er schließlich in Hans Meyer fand, der gerade seine Ausbildung abgeschlossen hatte. 1926 heiratete Hans Meyer Elfriede Löwenstein aus Borghorst im Münsterland. Aus der Ehe gingen 3 Kinder hervor.

Was normalerweise in Zeiten der ersten deutschen Republik in einer Großstadt wie Köln ohne Aufsehen blieb, wurde nach 1933 zu einem Problem mit wachsender Bedrohung: Hans Meyer, evangelischer Christ, war mit einer Jüdin verheiratet. Da alle Versuche „wohlmeinender“ oder auch Druck ausübender Parteifunktionäre und Kollegen gescheitert waren, diese Mischehe auseinander zu brechen und damit Elfriede Meyer dem drohenden Schicksal auszuliefern, wurde Hans Meyer Anfang des Krieges zwangspensioniert. Die Pension reichte zum Überleben der fünfköpfigen Familie nicht aus. In dieser Notlage fand Hans Meyer Aufnahme beim Architektenbüro für Garten- und Landschaftsbau seines Studienfreundes Victor Calles in Köln. Das Büro hatte von der Organisation Todt (OT) den Auftrag erhalten, den Westwall zu begrünen und zu tarnen. Hans Meyer fungierte als Bauleiter.

Die Verschärfung der Judengesetze im Jahre 1944 verschlechterte die Situation der Familie Meyer dramatisch, da nun auch die deutsch-jüdischen Mischehen in die „Endlösung“ einbezogen wurden. Zunächst verfügte die Stadt Köln die Einquartierung von 3 älteren Ehepaaren (deutsch-jüdische Mischehen) in ihrer Dienstwohnung in Lindenthal. Es wurde fürchterlich eng. Für alle Bewohner standen 1 Küche, 1 Toilette und 1 Bad zur Verfügung. Dieser Zustand währte allerdings nicht lange, da die Einquartierten nach und nach von ihren Spaziergängen nicht zurückkehrten und irgendwo untergetaucht waren. Ihre Habe hatten sie zurückgelassen. Wenig später forderte die Kölner Gestapo alle Mischehen auf, sich im Müngersdorfer Stadion einzuquartieren. Nachts bestand Aufenthaltspflicht, das Stadion war hermetisch abgeriegelt. Es hatte sich schon herumgesprochen, dass die Einquartierten bald nach Theresienstadt deportiert werden sollten. Als die Anwesenheitspflicht in diesem Sammellager auch für den Tag angeordnet und damit ein Entkommen unmöglich gemacht wurde, musste Hans Meyer seine Familie umgehend in Sicherheit bringen.

Hilfe trotz hohem Risiko
Familie Meyer mit den beiden Kindern Otto und Klaus – Renate war bei der „arischen“ Großmutter in Lindenthal untergebracht – machte sich auf den Weg nach Kaiserswerth. Die Fahrt nach Düsseldorf hatte eine Kölner Beamtin ermöglicht, die für die Familie Meyer einschließlich der jüdischen Ehefrau und Mutter Elfriede – entgegen der ausdrücklichen Anordnung - eine schriftliche Reiseerlaubnis erteilt hatte. Hans Meyer suchte bei seinem Freund Heinrich Küchler Rat und Hilfe: „Herr Küchler, was soll ich machen, haben Sie eine Idee?“ Küchler reagierte ohne Zögern: „Selbstverständlich bleiben Sie hier!“ Familie Meyer bekam in dem kleinen Haus auf der Arnheimer Straße 102 zwei Mansardenzimmer zur Verfügung gestellt. Sie war sogar in Kaiserswerth ordnungsgemäß gemeldet und galt Dank der Reiseerlaubnis als „ausgebombt“ aus Köln, bei Freunden untergebracht. Es gab Lebensmittel- und Kleiderkarten. Trotzdem war größte Vorsicht angebracht. Wer Juden versteckte und dabei erwischt wurde, musste mit der Todesstrafe rechnen.

Die elfjährige Renate Meyer blieb zunächst noch eine Zeitlang in Köln. Als Jüngste der Familie sollte sie nicht mitbekommen, dass sich ihre Eltern auf ihr Abtauchen vorbereiteten. Ihre Odyssee bei verschiedenen Freunden und Bekannten begann irgendwann im September 1944. Ihr erstes Versteck fand sie bei der evangelischen Pfarrerfamilie Fuckel in Köln-Nippes, die mit Meyers befreundet war. Die Frau des Pfarrers empfand Renate als sehr streng, und sie hatte große Angst vor ihr. Im Haushalt lebte noch eine junge Schwiegertochter, eine Kriegerwitwe, die nach dem Tod ihres Mannes gemütskrank geworden war. Die Pfarrerfamilie hatte vier Söhne, die alle an der Front eingesetzt waren. Drei waren im Laufe des Krieges schon gefallen. Während Renates Aufenthalt fiel auch der vierte Sohn.

Anschließend wohnte Renate eine Zeit bei der Großmutter in Lindenthal. Eines Tages durfte sie einen Besuch bei dem früheren Dienstmädchen Käthe Moll in Frechen machen. Als sie nach 2 Tagen wieder nach Lindenthal zurückkehrte, fand sie nur noch eine Trümmerwüste vor. Das Haus der Großmutter war zerbombt, Großmutter war nicht auffindbar. Wie sich herausstellte, war sie als einzige unverletzt aus dem Keller des zerstörten Mehrfamilienhauses gerettet und in einem Altersheim untergebracht worden. Heulend ließ sich Renate wieder nach Frechen fahren, wo sie 6 Wochen Zuflucht fand. Nach einer weiteren Unterbringung bei dem früheren Dienstmädchen Anna auf einem Bauernhof in Königsdorf holten die Eltern sie endlich kurz vor Weihnachten 1944 nach Kaiserswerth.

Wegen der schwierigen Wohnverhältnisse bei Küchlers fand Renate Aufnahme im Waisenhaus der Diakonissenanstalt auf der Friedrich-von-See-Straße. Von hier aus konnte sie ihre Eltern und Brüder besuchen. Als das Waisenheim in den letzten Kriegswochen wegen des Artilleriebeschusses von der linken Rheinseite evakuiert wurde, holten die Eltern ihre Tochter zu sich. Alle Hausbewohner hatten sich im Keller eingerichtet. Auch nachts blieb man unten. Die Betten waren im Kohlenkeller aufgestellt. Einmal flogen die Granaten dicht über das Haus und schlugen auf der Straßenseite gegenüber in die Mauer ein.

Schon längere Zeit wohnte Familie Meyer unauffällig im Hause Küchler. Eines Tages lag ein Brief des Polizeipräsidiums im Briefkasten, eine Vorladung für Heinrich Küchler. Hatte ihn jemand angezeigt? War einem Nachbarn aufgefallen, dass im Hause Küchler etwas nicht stimmte? Würde nun herauskommen, dass er „Volksfeinde“ versteckt hielt? Das könnte für alle böse Folgen haben. Die Tage bis zum Vorladungstermin belasteten alle Beteiligten schwer. Heinrich Küchler entschloss sich vorzusorgen, um im schlimmsten Falle seinen Schergen und sich selbst ein schnelles Ende zu bereiten: Zur Vernehmung nahm er eine Pistole mit. Wie groß jedoch war die Erleichterung, als sich die Vernehmung im Polizeipräsidium als völlig harmlos herausstellte.

Ein anderer Vorfall hätte beinahe tatsächlich dem friedlichen Miteinander im Hause Küchler ein jähes Ende breitet. Meyers älterer Sohn Otto, noch keine 18 Jahre alt, wollte unbedingt etwas für das bedrohte Vaterland tun und hatte sich ohne Wissen der Eltern freiwillig als Flakhelfer gemeldet. Wenig später klingelte es bei Küchler, zufällig öffnete Frau Meyer die Tür. Zwei Männer fragten, ob hier ein Otto Meyer wohne. Er hätte sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet und sie wollten ihm die Einberufungspapiere geben. Sie bräuchten aber noch einige Unterlagen, ihre frühere Adresse. „Wie kommen Sie denn darauf. Davon weiß ich ja gar nichts“, entgegnete Frau Meyer entrüstet. „Er hat sich freiwillig gemeldet, er wird im April 18.“ „Was hat der? Das kann nicht sein. Das ist völliger Blödsinn. Er hat sich älter gemacht, als er tatsächlich ist und sein Geburtsdatum gefälscht.“ Die so überzeugend vorgebrachten Einwände zeigten Wirkung, so dass die beiden Herren unverrichteter Dinge wieder abzogen. Der Schock saß tief im Hause Küchler. Später wurde Otto bewusst, dass er nicht nur seine eigene Familie, sondern auch die Familie Küchler in höchste Gefahr gebracht hatte, nicht zuletzt auch die Beamtin in Köln-Lindenthal, die die Reiseerlaubnis ausgestellt hatte.

Im April 1945 ging der Krieg an Rhein und Ruhr zu Ende. Familie Meyer hatte überlebt und verdankte dies vor allem der mutigen Entschlossenheit von Heinrich Küchler. Hans Meyer: „Durch diese Tat hat er seine (antinazistische) Gesinnung dadurch erhärtet, dass er mich, meine Frau als Volljüdin und unsere zwei Kinder ab September 1944 bis Kriegsende bedingungslos bei sich im Hau­se versteckt gehalten hat, als wir vor der Gestapo in Köln flüchten mussten. Diese wies uns aus der Wohnung, um uns alle nach dem Osten abzuschieben. Herr Küchler hat uns somit höchstwahrscheinlich vor einem grausamen Ende bewahrt.“

Bereits 14 Tage nach Kriegsende machte sich Familie Meyer mit den beiden Söhnen auf den Heimweg nach Köln, zu Fuß, weil es keine andere Möglichkeit gab. Ihre Wohnung auf der Dürener Straße existierte nicht mehr. Das Haus war bis auf die Außenmauern abgebrannt. In Neuehrenfeld fand sie eine neue Unterkunft. Hans Meyer wurde sofort wieder bei der Stadt Köln als Gartenarchitekt angestellt. Er erhielt den Nordbezirk zugewiesen, der den Bereich von der Innenstadt bis zur nördlichen Stadtgrenze einschließlich des West- und Nordfriedhofs umfasste. Tochter Renate folgte im Juli 1945 der Familie nach Köln. Als sich die Lage allmählich wieder besserte und sich auch die Verkehrsverhältnisse normalisierten, fanden wieder gegenseitige Besuche der befreundeten Familien statt.

Viele Helfer
Renate Meyer, heute Renate Toubartz, 71 Jahre alt, erinnert sich: „Wir haben in dieser schrecklichen Zeit viele Helfer gehabt: die beiden Dienstmädchen, die mich aufgenommen haben, Gartenbauunternehmer Calles, die Beamtin in Lindenthal, Pfarrer Fuckel und Familie Küchler. Ich weiß bis heute nicht, wie es meinem Vater gelungen ist, dass unsere Familie bis 1944 in der städtischen Wohnung bleiben durfte. Sicher war auch hier ein Helfer bei den Behörden. Man muss sich vorstellen, was diese Menschen für ein Risiko auf sich genommen haben. Die pauschale Verurteilung der Deutschen als „Tätervolk“ entspricht nicht der Realität. Aber Zeitzeugen, die die gängige veröffentlichte Meinung durch Fakten widerlegen können, werden nur ungern wahrgenommen und am liebsten totgeschwiegen.“

Nach dem Krieg wurde in der Familie Küchler über die als selbstverständlich empfundene Hilfeleistung nicht mehr gesprochen. Heinrich Küchler wohnte bis 1983 auf der Arnheimer Straße 102 und starb 1984 im hohen Alter von 95 Jahren im Altenzentrum Haus Salem in Ratingen, seine (erste) Frau Clara war bereits 1948 verstorben. Hans Meyer starb 1974, seine Frau Elfriede 1998 im biblischen Alter von 100 Jahren. Sohn Klaus Meyer avancierte im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik zum Botschafter in Prag und erlebte 1984 den ersten Ansturm von DDR-Flüchtlingen, unter ihnen auch die Nichte des Staatsratsvorsitzenden der DDR Willi Stoph. Die Öffnung der ungarischen Grenze und anschließend die Flucht von fast 4000 verzweifelten Flüchtlingen 1989 in die deutsche Botschaft nach Prag ins Palais Lobkowitz musste er nicht mehr meistern. Er war 1985 als ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland der OECD nach Paris beordert worden. Dort in der ständigen deutschen Vertretung fand am 3. Oktober 1990 anlässlich der Wiederverein­igung des geteilten Deutschlands ein Empfang statt, zu der Dr. Klaus Meyer bedeutende Vertreter des öffentlichen Lebens eingeladen hatte. Auch seine Geschwister Otto Meyer, Gartenarchitekt bei der Gebag Duisburg und Renate Toubartz aus Köln durften mit dabei sein.

Bruno Bauer