Heimat-Jahrbuch 2006

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Die erste Kirmes nach dem Krieg
Neubeginn nach einer entbehrungsreichen und schmerzvollen Zeit – Beseitigung von Kriegsschäden hatte Vorrang
Von Josef Brockerhoff

Nach 60 Jahren wird durch Presse, Funk und Fernsehen die Zeit des Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit immer wieder in Erinnerung gerufen. In Berichten und Bildern erleben wir noch einmal die Schrecken der Kriegsjahre und sind darüber betroffen, was Menschen einander angetan haben. Auch Wittlaer geriet in den letzten Kriegswochen in die Hauptkampflinie. Am 29. März 1945 erfolgte an die Wittlaerer Bevölkerung der Zwangsräumungsbefehl durch den Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Friedrich Karl Florian. Trotz Drohung der Militär-Behörde blieben viele Bewohner in ihren Häusern und waren zum Ende des Krieges nicht irgendwo auf der Flucht.

Freitag, der 13. April 1945 – kein deutscher Soldat war mehr im Dorf zu sehen. Am Abend gegen 21 Uhr zog ein amerikanischer Stoßtrupp durch Wittlaer. Wir alle konnten aufatmen, die Zeit des Keller-Lebens war nun vorbei. Viele Dorfbewohner hatten Glück, in dem sie politisch richtig gehandelt hatten. Große Aufgaben lagen nun vor uns allen. Die größten und meisten Schäden gab es an den Dächern der Häuser und Höfe, die jeder so gut wie möglich notdürftig zu beseitigen suchte. Viele Wittlaerer Familien mussten eng zusammenrücken, um Flüchtlinge, Ausgebombte und Obdachlose aufzunehmen. Aus dem Osten trafen Tausende Vertriebene ein, aus den benachbarten Städten suchten zahlreiche Menschen eine Bleibe, deren Häuser und Wohnungen zerbombt waren. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter vieler Nationen zogen ab in ihre Heimatländer, wobei es nicht selten zu Plünderungen und Gewalttaten kam.

„Hamstern“ Es gab nichts zu kaufen. Der Tauschhandel blühte. Die zum Ende des Nazi-Regimes total aufgeblähte Währung brach nach dem Einmarsch der Alliierten zusammen. Mit noch so viel Bargeld in der Tasche konnten die Menschen wenig anfangen. Der „Schwarzmarkt“ beherrschte den Handel. Eine ganz besondere Einheit bildete die so genannte „Aktive“, das heißt die nicht selbst gedrehte Zigarette. Für Zigaretten, Tabakwaren und Lebensmittel aller Art war alles Andere aus dem ohnehin knappen Verbrauchsgütersortiment zu bekommen. Dieser Schwarzmarkt florierte ganz besonders in den Städten, in denen sich auch viele aufmachten, um „auf dem Land“ gegen begehrte Tauschobjekte Naturalien zu erwerben. Dieses „Hamstern“ führte oft zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Landbevölkerung und den Städtern, die sich vom Hunger getrieben an den Feldfrüchten bedienten.

Der neue Anfang war für viele Menschen unsagbar schwer. Aus den Ruhr-Großstädten zogen Scharen von Arbeitssuchenden über Land. Ihre Fabriken hatten den Bombenhagel nicht überstanden. Sie wollten auf den Höfen arbeiten und waren bereit, über dem Stall zu schlafen, um dann am Wochenende – mit Naturalien entlohnt – zu ihren Familien zurückzufahren. Es gab Arbeit in Hülle und Fülle, aber auch viele Hände, die zum Anpacken bereit waren. So wurde auch schon bald der Wiederaufbau des Kirchturms und die Reparatur der Kirche in Angriff genommen. Die Vorarbeiten bis zum Neuaufbau leisteten die Wittlaerer Bauern. Zu dieser Zeit gab es kaum technische Hilfsmittel. Heben und Tragen über Leitern und Gerüste war die einzige Möglichkeit. Die Bau-Unternehmer Gebrüder Willi und Karl Weilers waren immer ansprechbar und haben einen großen Beitrag am Aufbau der Kirche geleistet. Zwei Steinmetze aus Düsseldorf, die von Montag bis Samstag auf dem Wittlaerer Hof in Kost waren, bearbeiteten wochenlang Tausende von Steinen. Not machte erfinderisch. Jeder Meter Garten wurde bestellt. Aus eigenem Garten zog man Saatgut nach. Um eine größere Fläche bepflanzen zu können, wurden Pflanzkartoffeln halbiert. Die Ernährungslage war besonders schlecht für Familien, die keinen Garten oder Stall hinter ihrem Haus für Kleintierhaltung hatten. Die Lehrerschaft spielte eine sehr gute Vermittlerrolle. Sie wusste am besten, wo Hilfe und Beistand nötig war. Es wurden Kinder auf Höfe zum Mittagstisch vermittelt oder mit nicht käuflichen Nahrungsmitteln unterstützt.

„Schwarz“ brennen Schon bald nach dem Krieg, nach einer entbehrungsreichen und schmerzhaften Zeit, sehnte sich ein Teil der Dorfbewohner nach Fröhlichkeit. Ich entsinne mich noch gut an einen jungen Mann, der damals beim Gemüsebauer Josef Peters tätig war und Akkordeon spielen konnte. Wenn er an manchen Feierabenden bei Brand’s Jupp in der damaligen Veranda „Rosamunde“ spielte, fanden sich dort einige, meist Ortsfremde, Vertriebene und Heimatlose zum Tanz ein. Sie nahmen die Gelegenheit wahr, unter sich zu sein und miteinander zu sprechen. Unter den Vertriebenen war auch die Familie Siebert, die etwa 65-jährige Mutter mit ihren beiden erwachsenen Kindern Albert und Frieda, die dem Wittlaerer Hof zugewiesen worden war. Zwei Söhne der ursprünglich achtköpfigen Familie waren im Krieg gefallen, der Vater war beim Einmarsch der Sowjetarmee in Allenstein/ Ostpreußen von russischen Soldaten mit zwei seiner Töchter abgeführt und verschleppt worden. Man hat nie wiedergesehen. Die restliche Familie wurde von ihrem Hof mittlerer Größe, an dem sie Miteigentümerin war, vertrieben. Nun lebte sie hier in Wittlaer als Landarbeiter auf einem Zimmer ohne Waschbecken und Dusche, zusammen mit vielen Ausbebombten, die auf dem Wittlaerer Hof ein Dach über dem Kopf gefunden hatten.

Als bei Brands der Saal von obdachlosen Flüchtlingen frei wurde, fanden dort die ersten schönen kleinen Feste statt. Zum Feiern, so glaubte man, gehört auch Alkohol. Im Dorf und in der näheren Umgebung gab es einige Schwarzbrenner. Es war eigentlich verboten, genau wie das Schwarzschlachten von Vieh. Hierfür war eine Erlaubnis erforderlich. Schnaps wurde meist aus Getreide gebrannt. Für 10 Pfund Getreide gab es eine Flasche Schnaps. Je nach Fähigkeiten der Hersteller waren es oft Getränke, die man besser in den Spülstein gegossen hätte. Wer eine Flasche zum Fest in eine Gaststätte mitbrachte, musste an den Kellner 5 Mark Korkengeld zahlen. Wehe, wer mit diesem Fusel Marke „Bumm“ kein richtiges Maß einhielt, der hatte große Nachwehen.

Nach all dem Schrecklichen hieß das neue Denken: „Das Leben geht weiter“. Die erste Kirmes im Dorf nach dem Krieg fand am 29. und 30. Mai 1948 statt. Ich erinnere mich noch gut an so manche Äußerung und harte Kritik: „Da ist kaum der Krieg zu Ende, da ziehen sie schon wieder eine Uniform an und marschieren in Reih und Glied los.“ Trotz dieser Vorbehalte wurde das Fest zur Freude der Jugend und der Erwachsenen gefeiert. Es war noch gut in Erinnerung, dass gerade die Nazis das althergebrachte Wittlaerer Schützenfest im Jahre 1936 verboten hatten. 1950 war ich noch dabei. Als unsere Familie dann vom Wittlaerer Hof zum Kamperhof nach Kaiserswerth umzog, war Pastor Stypertz der Meinung: „Wer nicht im Ort wohnt, sei ausgeschlossen.“ Von da ab war ich Zuschauer.

Zwei Jahre nach Kriegsende zeichnete sich ab, dass mit der Währung irgendetwas passieren musste. Auf der einen Seite standen die Arbeiter, die für ihr schwer verdientes Geld nichts kaufen konnten und mit ihren Familien Hunger leiden mussten, auf der anderen Seite gab es genug Leute, die vom „Schwarzmarkt“ reich geworden waren. Als am 19. Juni 1948 die Währungsreform verkündet war, begann am folgenden Tag die Verteilung der ersten neuen Geldnoten, das so genannte Kopfgeld, jedoch nur 40 Mark – Deutsche Mark, wie die Währung nun offiziell hieß. Die erste Kopfgeldrate erhielten alle Haushaltsvorstände und Alleinstehende. Ausgabestellen für das Geld waren die Lebensmittelkartenstellen. Der Kopfgeldrest von 20 Mark wurde dann wenig später ausgezahlt. Es war aber noch lange nicht alles gut. Die Währungsreform hatte das Warenangebot in den Geschäften erstaunlich anschwellen lassen. Plötzlich war alles vorhanden. Wo kamen bloß die Waren her? „Wie die wunderbare Brotvermehrung“, spotteten viele. Die Verbitterung in der Bevölkerung in Stadt und Land war groß, denn sie war nicht in der Lage, die ausgestellte und nun dringend benötigte Ware infolge Geldmangels zu kaufen. Diese miese Lage ebbte aber dann allmählich ab.