Heimat-Jahrbuch 2007

« zurück
Vom „BĂ€r” zu Kaiserswerth
Ein Mauerbollwerk und Eisbrecher zum Schutz der Stadt – Ein Hindernis fĂŒr die Treidelschifffahrt wurde 1836 beseitigt
Von Fritz Gehne

Zu den beliebtesten SpaziergĂ€ngen der vielen Besucher von Kaiserswerth gehört nach wie vor die Promenade, die den Rhein entlang hinauf oder hinunter ins GrĂŒne, in die Natur und in die Stille fĂŒhrt. Es ist der alte Leinpfad, den einst durch Jahrhunderte die Pferde betrampelten, die die Schiffe stromauf zogen. GebĂŒhrend bewundert wird bei der Stadt besonders die Ruine der Kaiserpfalz, jetzt noch ein Bau­koloss, dessen Wucht und StĂ€rke jeden Betrachter beeindruckt und in Staunen versetzt. Dass neben diesem Bauwerk fest am Rheinufer noch weitreichende Mauer­fundamente zu Tage treten, besagt fĂŒr den SpaziergĂ€nger wenig, höchstenfalls ver­mutet er vielleicht darin das Fundament eines Turmes, der einstmals mit der Burg in Verbindung stand.

Dem ist aber nicht so. Hier stand ehe­mals bis zum Jahre 1836 ein Bauwerk, das fĂŒr die Stadt von weitreichender Be­deutung gewesen war. Es war ein Mauer­bollwerk, ein Eisbrecher, errichtet als Wellenbrecher und Zerstörer der anbrau­senden Eisschollen. Sie sollten an seiner Wucht zerschellen und von Burg und Stadt abgeleitet werden zum Strom, um sie vor Schaden zu bewahren. Den ungestĂŒmen Naturgewalten ausgesetzt, musste der Bau so fest und stark sein, dass er al­len StĂŒrmen Trotz bieten konnte. Die dunklen Tuffsteine waren durch Trass­mörtel zu einer felsenstarken Einheit ver­gossen. Der Form nach war das Bauwerk dreiseitig, die lĂ€ngste Seite dem Strom zugeneigt. Der alte tiefgraue Tuff, das gleiche Material, worauf im 12. Jahrhun­dert der Dom gebaut wurde, lĂ€sst auf ein hohes Alter schließen. Vielleicht ist diese Schutzeinrichtung gleichzeitig mit der Kaiserburg entstanden.

Die ungetĂŒme Form, die Wucht seiner Masse, seine klo­bige Gestalt brachten diesem Widerstandsbrecher den Namen „BĂ€r“1 ein. Nicht nur in Kaiserswerth, sondern auch bei anderen RheinstĂ€dten, vor allem bei solchen, die, wie Geologen sagen, in der Aue oder im Schwemmland liegen, also hĂ€ufigen Überschwemmungen ausgesetzt sind, gibt es Ă€hnliche Anlagen. Rees z. B. hat ein sol­ches Bollwerk sĂŒdlich der Stadt, und hier ist der Ausdruck „BĂ€r” dafĂŒr noch gelĂ€u­fig2. Diese Bezeichnung ist in Kaiserswerth auch aktenkundig. Als der Geometer HĂŒrxthal das „Wardtholz”, Korb- und Kopfweiden, womit die Rheinufer in der Au bepflanzt waren, die gewerblich ge­nutzt wurden, vermessen wollte, schrieb er in seinem Protokoll, dass er als Ausgangspunkt seiner Vermessung den „BĂ€r” gewĂ€hlt habe, einen unverrĂŒckbaren Rich­tungs- und Kontrollpunkt.

Dass der Eisbrecher dem Schutze von Burg und Stadt dienlich gewesen sein muss und seinen Zweck erfĂŒllt hat, ist dadurch erwiesen, dass er sich bis in die Neuzeit erhalten konnte. Das ist insofern verwun­derlich, als er andererseits fĂŒr die Rheinschifffahrt das grĂ¶ĂŸte Hindernis darstellte. Allen stromaufwĂ€rts fahrenden Schiffen bereitete er einen vorlĂ€ufigen Abschluss der Fahrt. Wie sollten auch die Treidel­pferde auf dem Leinpfad ein Schiff um den Koloss herumfahren? Hier musste ein Hindernis mĂŒhsam umgangen werden. Jedes Fahrzeug musste anlegen. Die Pferde wurden abgestrĂ€ngt und durch die Stadt­straßen wieder zum Leinpfad sĂŒdlich der Burg gefĂŒhrt. Inzwischen waren die Schiffsleinen verlĂ€ngert und um das Hindernis herum zu einem Pfahl mit einer Scheibe oder Rolle, worĂŒber sie gelegt wurden, vorgezogen. Jetzt konnten die Pferde zur Weiterfahrt wieder angespannt werden, und die Rolle gab dem Schiff die Richtung um das Bollwerk herum. Das war ein um­stĂ€ndliches Verfahren, erforderte viel Zeit und zwang die Schiffer zu einem unfreiwilligen Aufenthalt. So ging der Lein­pfad hier nicht lĂ€ngst der Stadt, sondern tatsĂ€chlich durch die Stadt. Das Vorziehen der Leinen war Privileg der Familie Monheim, sie besorgte das gegen eine freiwil­lige Abmachung mit den Schiffsleuten (nachweisbar schon seit dem Jahre 1765). Die ĂŒbliche Tour ging von hier bis zum Golzheimer Hafen, wo ein Umschlagplatz war und der Treidelweg jetzt linksrhei­nisch seine Fortsetzung hatte.

Die Schiffer benutzten den langen Aufenthalt in der Stadt zur Proviantierung fĂŒr die Weiterreise. Hier war die Gele­genheit gĂŒnstig, um Weißbrot, Schwarz­brot, Rindfleisch, Schweinefleisch, Mehl, Bier, Branntwein und Spezereien einzu­kaufen. Außerdem war noch Zeit zum Haarschneiden und Bartscheren, sogar fĂŒr den Pferdebeschlag. Das war eine vorzĂŒg­liche Einnahmequelle fĂŒr alle Arten von GeschĂ€ftsleuten in der Stadt. Der BĂŒrger­meister ließ 1834 einmal im einzelnen er­mitteln, wieviel Geld die Schiffer in der Stadt zurĂŒckließen. Es waren 3067 Taler, wozu noch das Pflastergeld fĂŒr die durch die Stadt gefĂŒhrten Pferde mit 84 Talern kam. Da das Einkommen des Monheim fĂŒr das Vorziehen der Schiffsleinen auf 400 Taler zu veranschlagen war, ergab sich insgesamt eine hĂŒbsche runde Summe von 5000 Talern.

Die durch Verlegung des Zuchthauses im Jahre 1796, durch Vereinigung des Stadtgerichts mit Ratingen 1810, durch Aufhebung des Rheinzolls 1803, durch SÀ­kularisierung des Kollegiat-Stifts 1803 sehr arm gewordene Stadt bangte um diese jÀhrliche Einnahmequelle sehr und vielleicht war gerade das mit ein Grund, weshalb eine so störende Einrichtung so lange bestanden hat.

Es ging alles gut, so lange die Pferde­treidelei bestand. Als aber die Dampfschifffahrt um 1830 in Flor kam und von ihr Lasten von bisher unvorstellbaren Mengen und in viel kĂŒrzerer Zeit bewĂ€l­tigt wurden, war es um den alten Eisbre­cher geschehen. Im Mai 1833 tauchte das GerĂŒcht auf, „wonach unserer armen Stadt auch die letzte Erwerbsquelle durch die Legung des Leinpfades lĂ€ngs der Stadt, entrissen werden soll”. Dazu musste na­tĂŒrlich der Eisbrecher entfernt werden. Dann hatte die Schifffahrt freie Fahrt, und kein GefĂ€hrt brauchte mehr anzulegen. Damit entfielen aber auch die reichen Einnahmen. BekĂŒmmert bemerkt dazu der BĂŒrgermeister: „Wird dieser letzte Er­werbszweig uns nun auch noch genom­men, wird unser unglĂŒcklicher Ort nur noch von Bettlern bewohnt sein”, und der Landrat wird gebeten, bei der Regierung, „die doch so gerne dazu beitrĂ€gt, den Wohlstand der von ihr verwalteten Orte zu heben”, vermitteln zu wollen, „daß die Verlegung des Leinpfades nicht ausge­sprochen wird, und wir somit die letzte unserer Nahrungsquellen behalten dĂŒr­fen.”

Die Antwort der angesprochenen Regierung war negativ: „Wir können nur bedauern, daß bei Verlegung des Leinpfades auf die Stadt keine RĂŒcksicht genommen werden kann, indem die Schiffahrt auf dem Rheine möglichst erleichtert und ge­sichert werden muß, und das schiffahrende Publikum auf Behebung der hin und wieder noch bestehenden bedeutenden Ge­fahr bringenden Hindernisse, worunter auch der Zug des Leinpfades durch die Stadt Kaiserswerth gehört, mit Recht An­spruch macht.“ Das Urteil war gesprochen, der RegierungsprĂ€sident gibt den trost­losen Bescheid: „Die Nachteile, welche nach Ihrer Vorstellung der Stadt Kaisers­werth aus der Verlegung des Leinpfades erwachsen, bedaure ich mit Ihnen aufrichtig, kann aber an der Sache nichts Ă€ndern, da höhere RĂŒcksichten die Ver­legung unerlĂ€ĂŸlich machen.”

Trotzdem richteten die BĂŒrger von sich aus einen allerletzten Appell in einer eingehenden Denkschrift an die Regierung, worin es u. a. heißt: „Mit Schmerz sehen wir unsere unglĂŒcklichen Kinder heranwachsen, denn wir wissen ihnen keine Existenz zu sichern und können unserer Jugend nur den Bettelstab in Aussicht stellen. TĂ€glich sehen wir unsere Lage sich verschlimmern und keine Grenze des Elends, welche uns und unsere Kinder erwartet. Jetzt durch die Verlegung des Leinpfades empfindet unser stĂ€dtisches Ärar3 einen bedeutenden Verlust, Fleischer, BĂ€cker, Brauer und andere Gewerbetrei­bende sehen ihre kĂ€rgliche Nahrung wie­derum geschmĂ€lert, und mit Schauder fra­gen wir uns, wohin soll das fĂŒhren? Werden wir nicht zu den Söhnen Preußens gezĂ€hlt? Ist es durchaus auf unseren gĂ€nz­lichen Ruin abgesehen?”

Auch dieser letzte Notschrei verhallte un­gehört. Wasserbau-Inspektor Lentze beseitigte das Bollwerk und nun ging der Leinpfad ungehindert an der Stadt vorbei. Die Epoche der Mechanisierung der Schifffahrt war mit aller Macht hereinge­brochen. Der Dampf hatte der Pferdekraft den Rang abgelaufen. In wenigen Jahren war von einer Schiffstreidelei keine Rede mehr. Solche Umschichtungen erfordern Opfer, große Opfer, und die hat Kaisers­werth bis zur Neige auskosten mĂŒssen.

Unterdessen sind heute Bollwerk, BĂ€r und die tragischen UmstĂ€nde, die sich daran knĂŒpften, vergessen. Niemand weiß mehr etwas davon. Und dass trotzdem der Begriff „BĂ€r” noch im Unterbewusstsein hier und da geistert, konnte ich kĂŒrzlich erfahren. Einem 82jĂ€hrigen Kaiserswerther, mit dem ich an Ort und Stelle ĂŒber den Eisbrecher gesprochen hatte, waren die Tatsachen völlig unbekannt und die Fundamente und die Pfahlreste beeindruckten ihn. Obwohl der Ausdruck „BĂ€r” bei der Unterhaltung nicht gefallen war, sagte er spontan zu mir: „Wissen Sie auch, wie die Stelle, auf der wir hier stehen, ge­nannt wird? Sie heißt im Volksmund „BĂ€r”, und warum? Weil einst im Dom der goldene Suitbertusschrein gestohlen worden ist. Als die Diebe ihn an dieser Stelle aus der Stadt herausschaffen woll­ten, kam ihnen ein mĂ€chtiger BĂ€r ent­gegen. Vor Schreck ließen sie ihren Schatz stehen und flĂŒchteten.” Der Diebstahl ist natĂŒrlich Fabelei, das Volk wollte eine Er­klĂ€rung haben zu der Bezeichnung „BĂ€r” an dieser Stelle. So haben wir hier ein frappierendes Beispiel, wie noch im letzten Jahrhundert Legenden und Sagen ent­stehen können.

Anmerkungen
1 „BĂ€r” = steinerner Damm, Wehr, Abriegelung eines (Festungs-)Grabens vom natĂŒrlichen Flusslauf; franz. Batardeau
2 Auch in Orsoy und einigen niederlĂ€ndischen Orten sind „BĂ€ren“ historisch belegt
3 Ärar: Stadtkasse (von lat. aerarium = Geldkammer)

Bildunterschriften: 1 Stadtansicht Kaiserswerth von Westen, niederlĂ€ndischer Stich, vor 1702 2 Treidelschifffahrt vor DĂŒsseldorf, Aquarell von Weyermann